Verfasst von: Hao | 3. November 2011

Erinnerungen an meinen Lehrmeister (II)

Unter vielen Dingen, für die ich dem Verstorbenen immer dankbar sein werde, war es vor allem meine Hinführung zur Eigenverantwortung bereits in meiner Jugend. Ich glaube, dass er in seinem Leben kein einziges pädagogisches Buch gelesen hatte, aber trotzdem war er ein ausgezeichneter Pädagoge, der mit Tadel äußerst zurückhaltend, aber mit seinem Lob mir Selbstachtung und das Selbstbewusstsein vermittelte, welches gerade ein junger Mensch in der Pubertät so dringend benötigt, um zu reifen.


Zwischenprüfung nach einem Jahr 

Von daher war es eigentlich selbstverständlich, dass bereits in meinem zweiten Lehrjahr Kunden, die einen Stempel schon vorgestern geliefert haben wollten, von ihm zu hören bekamen: „Das kann ich nicht entscheiden. Fragen Sie mal meinen Mitarbeiter, ob der heute noch ein Stündchen dranhängt“. Man stelle sich vor: Ich kleiner Lehrling hatte zu entscheiden, ob ein Stempel rechtzeitig ausgeliefert werden konnte oder nicht. Welch eine Achtung, Würde und Anerkennung wurde mir da zuteil! Nein, ich war kein kleiner und unbedeutender Stift, sondern er sah in mir immer einen wertvollen Mitarbeiter, den er auch entsprechend behandelte.



Zwischenprüfung nach einem Jahr 

Ich bin mir sicher, dass es heute anders in den Betrieben und in unserer Gesellschaft aussehen würde, wenn es damals noch mehr solche Lehrmeister vom Schlage eines Helmut Nöll gegeben hätte.


Aber auch er hatte Grenzen. Seine Liebe zum Remscheider Platt konnte er mir nicht vermitteln, auch wenn er unzählige Anläufe unternahm und sich immer wieder anstrengte. Nicht, dass ich die Sprache verachtete, aber ich schaffte es einfach nicht.

Gesellenstück

Rückblickend bin ich unendlich dankbar, dass er mich so lange Zeit auf diese Art und Weise geprägt hat.


Lied
Dem Herren mußt du trauen, wenn dirs soll wohlergehn;
auf sein Werk mußt du schauen, wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein
läßt Gott sich gar nichts nehmen, es muß erbeten sein.


Lasst uns nun auf den Lebensweg des Verstorbenen zurückblicken.

Geboren wurde Helmut Nöll am 15.3. 1910 in Remscheid-Lobach . Er verlebte mit seiner jüngeren Schwester Gerda und seinem älteren Bruder Robert, der im zweiten Weltkrieg fiel, eine schöne aber sicherlich auch schwere Kindheit, die in die Zeit des Ersten Weltkrieges fiel.

Von 1924 bis 1928 absolvierte Helmut Nöll eine Lehre als Graveur bei der Firma Artur Berger, wo er noch bis 1930 arbeitete.

Dann wurde auch er Opfer der Weltwirtschaftskrise. So war er als Hilfsarbeiter bei Mannesmann und von 1933 bis 1936 bei der BSI als Hobler tätig. Danach konnte er wieder in seinem alten Beruf bei der Firma Straßmann arbeiten.

Erst in den letzten Kriegstagen, nämlich am 23.3.1945 wurde er zum Volkssturm eingezogen und geriet wenige Tage später in der Nähe von Siegburg in französische Gefangenschaft, landete in dem gefürchteten PK-Lager auf den Rheinwiesen und lebte zwei Jahre in Frankreich. Am 10.Oktober 1947 wurde er aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen.


Nach Remscheid zurückgekehrt, bereitete sich Helmut Nöll zwei Jahre auf die Meisterprüfung vor, die er am 1. Februar 1949 ablegte. Während dieser Zeit war Wilhelmine Nöll, geb. Loose, die er am 10.1.1942 geheiratet hatte, für den Lebensunterhalt verantwortlich.

Kurze Zeit später machte sich Helmut Nöll selbständig. Von da an ging es bergauf, bis er Mitte der 50er Jahre, einen Gesellen, den er ausgebildet hatte, aufgrund mangelnder Aufträge entlassen musste.


Als diese Hürde überwunden war, bildete er einen weiteren Lehrling aus. Später folgten noch zwei weitere.

Am 25.3.1951 wurden Minchen und Helmut Nöll Eltern und schenkten Jutta das Leben.


1975 erfolgte der Umzug in die Bahnhofstraße. 1978 verkaufte mein Lehrmeister seine Gravieranstalt an Rolf Johann, den letzten der vier Lehrlinge, die er ausgebildet hatte.

1985 erlebte er eine tiefe Krise, als er sich von seinem geliebten Minchen verabschieden musste. Er fiel in ein tiefes Loch, aber seine Tochter Jutta fing ihn auf und machte ihm Lebensmut. Der Vater zog in den Westring zur Tochter.


Der Verstorbene frischte seine Liebe zur Remscheider Mundart wieder auf und traf sich regelmäßig in Lütterkusen mit den Plattkallern.

Im Altenclub, mit deren Mitgliedern er sich fast täglich im Hardt-Park traf, war er ein gern gesehener Gast. Dort spielte er nicht nur Skat und erfreute die Anwesenden mit seinen Döneken, sondern auch bei Fahrten und Ausflügen war Helmut immer dabei. In seiner Geldbörse hatte er immer einige selbst geschriebene Geschichten auf Remscheder Platt bei sich, die er, je nach Bedarf, zum Besten gab.

Er umsorgte nicht nur seine beiden Enkelinnen, Inga und Nina, als sie noch klein waren, sondern bewies, dass er nicht nur mit Hammer und Stichel, sondern auch im Garten mit Spaten und Harke fachmännisch umgehen konnte.

Und wenn denn das Wetter mitspielte, so machte er mit dem Hund noch ausgedehnte Spaziergänge zum Hohenhagen.

Auch in seinem hohen Alter war Helmut Nöll immer noch sehr kontaktfreudig, er war eine Frohnatur der besonderen Art.

Nur in den letzten Wochen erlebten ihn die Hausbewohner nachdenklich. Er muss wohl davon Ahnung gehabt haben, dass seine Lebensuhr nach 87 Jahren bald ablaufen sollte.

Warum habe ich hier so viele Einzelheiten aus dem Leben von Helmut Nöll und persönliche Erlebnisse erzählt, werden Sie vielleicht fragen.

Bei der Beerdigung von Frau Nöll 1985 kam anschließend Jutta zu mir und bedauerte einen Umstand, der mir auch negativ aufgefallen war. Viel hatte der Pastor gesagt, es war auch alles richtig, aber er hatte nur sehr wenig erzählt von dem bewegten und nicht gerade einfachen Leben der Verstorbenen.

Ich habe mir damals im Stillen vorgenommen, es anders zu machen, wenn mir die Möglichkeit gegeben werden sollte, mich einmal in dieser Form von meinem Lehrmeister verabschieden zu dürfen. Das bin ich meinem Lern- und Lebensmeister schuldig!


Lied
Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht!
Laß fahren, was das Herze betrübt und traurig macht!
Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll;
Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.

Ich möchte meine und Ihre Erlebnisse und Erinnerungen an Helmut Nöll, die Ihnen jetzt durch den Kopf gehen, abschließend aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten.

Eine Beerdigungsansprache darf ja nicht nur aus der Erinnerung an den Verstorbenen bestehen, sondern sie sollte, ja, sie muss auch trösten.

Welcher Trost, welche Worte können in einer solchen Lage eines plötzlichen und unerwarteten Todes Mut und Hoffnung geben?

Es müssten Worte aus einer anderen Quelle sein, als menschliche Worte, menschlicher Trost. Es müssten überaus tröstende Worte sein, die auch noch Bestand haben, wenn Jutta, Nina und Inga zum ersten Mal in ihrem Leben in wenigen Tagen das Weihnachtsfest ohne ihren Vater und Opa feiern müssen.

Dieser Trost muss über den Tod hinausgehen und Dimensionen aufzeigen, bei denen der Tod bei aller Trauer, die er verursacht, doch die letzten Schrecken verliert.


Ich habe für diese schwere Stunde für Sie und auch für mich einen Vers aus dem Liederbuch der Bibel, aus Psalm 103 Vers 2 ausgesucht: Vor rund 2.800 Jahren hat ein Mann diesen wichtigen Satz geschrieben, der mich durch mein Leben begleitet und geprägt hat:

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“

Wir Menschen waren und sind – Ausnahmen bestätigen die Regel – oft undankbar. Vieles wird vergessen oder ist selbstverständlich, das war damals zur Zeit des Königs David nicht anders. Er lässt sich aber nicht von anderen zum Dank auffordern, sondern gibt sich selbst einen Ruck.

„Lobe den Herrn, meine Seele?“ Ist das nicht eine Zumutung? „Jetzt in dieser Situation im Angesicht eines Sarges soll ich Gott loben? Danach ist mir doch gar nicht zumute. Ich bin doch verzweifelt und unendlich traurig, weil der Westring 6 jetzt leer ist.

Ich kann diese Fragen gut verstehen. So berechtigt sie auch sein mögen, dennoch möchte ich uns alle, liebe Angehörigen und Freunde des Verstorbenen, in dieser Stunde vom Klagen zum Loben bringen. Dabei sind für mich Tränen, offene und versteckte, kein Widerspruch.

Wir werden hier ja nicht ohne Grund aufgefordert, Gott zu loben. Die Begründung des Lobens wird uns mitgeliefert: Sie lautet: „Und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat!“


„Und vergiss nicht, was er Dir durch Helmut Nöll Gutes getan hat!“ Welche Dimension bekommt plötzlich diese Rückschau vor einem Sarg, vor dem Sarg, in dem sich die sterbliche Hülle von Helmut Nöll befindet?

Vielleicht erleben Sie erst in der Trauer und im Nachdenken so richtig, was Gott Ihnen mit dem Leben von Helmut Nöll Gutes getan hat. Buchstabieren Sie doch alle in einer stillen Stunde einmal das durch, was Sie durch den Verstorbenen Gutes und Schönes erlebt haben.

Es war für mich sehr eindrücklich, als Jutta mir erklärte: „Vater hatte immer für mich Zeit. Er war ein Familienmensch. Ich brauchte nur in die Werkstatt zu gehen und er stand für meine Belange zur Verfügung“.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“.

Vielleicht ist uns wieder neu deutlich geworden, dass wir auch jetzt noch Gott loben können über alles Gute was er uns allen durch Helmut gegeben hat?

Ich denke jetzt aber auch an einen Menschen, dem wir ebenfalls viel zuverdanken haben und dessen Geburtstag wir in wenigen Tagen feiern.

Er wurde nur 33 Jahre alt und hat zeitlebens, obwohl er im Grunde nur Schlechtes von den Menschen, die er liebte, erlebte, immer nur Gutes getan. Ich meine Jesus, den gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes.

Als Dank dafür wurde er zum Schluss noch von einem seiner besten Freunde schamlos verraten.

Wenn schon Helmut seine Familie geliebt hat, um wie viel mehr liebt uns der Schöpfer. Deshalb sandte er auch Jesus in die Welt, nicht nur, um uns vorzuleben, wie man miteinander umgehen soll, sondern auch um uns von allem zu erlösen, was unser Leben zerstören will: die Schuld und die Sünde. Wenn wir daran festhalten, dann können wir trotz dieses Todesfalles von Helmut ein gesegnetes Weihnachtsfest feiern, dann zieht trotz des schmerzlichen Verlustes des Vaters und Opas auch in den Westring 6 wahre Weihnachtsfreude ein.


„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir durch Helmut Nöll Gutes getan hat“.

Amen

Lied

Ihn, ihn laß tun und walten, er ist ein weiser Fürst
und wird sich so verhalten, daß du dich wundern wirst,
wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat
das Werk hinaus geführet, das dich bekümmert hat.


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