Abschied

Meine Oma war immer da. Bis zum 8. März 2015. Als ich am Abend des 8. März mit meiner Freundin Irena in meinem Lieblingscafé in Tallinn saß, klingelte mein Handy, und als ich die Nummer meiner Cousine Steffi auf dem Display sah, ahnte ich schon weshalb sie anrief. Unsere Oma Luise war im Alter von 97 Jahren gestorben.

Auch wenn ich wusste, dass meine liebe Oma nicht mehr viel Zeit hatte und sich sogar gewünscht hatte, aus dieser Welt zu gehen, da es ihr immer schlechter ging, war ich unendlich traurig. Meine Oma war immer für mich da, vor allem in meiner Kindheit, als ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr fast ständig bei den Großeltern lebte und für sie fast das „dritte Kind“ war (nach meiner Mutter und meiner Tante). Aber auch als Jugendliche verbrachte ich fast jede Sommerferien mit den Großeltern und später blieb der Kontakt immer eng.

So manche Alltagshandlung erinnert mich nun an meine Oma, Dinge, die ich von ihr gelernt habe. Das Rezept meines Lieblingskuchens, einer Johannisbeer-Baiser-Torte, ist von ihr, in ihrer altertümlichen Schrift geschrieben steckt es in meiner Sammlung. Da sind die Butterkekse, die sie immer zu Weihnachten gebacken und uns geschickt hat – und die ich in den letzten Jahren nun für sie gebacken und ihr mitgebracht habe – oder die „Flachswickele“, ein typisches Hefegebäck.

Meine Oma ermöglichte mir immer wieder eine kleine Zeitreise, wenn sie von früher erzählte, wie sie als Tochter eines ehrbaren Kaufmanns, der ein Kurzwarengeschäft führte, in Fürth aufwuchs. Als sie 1917 geboren wurde, hatte Deutschland noch einen Kaiser und der Erste Weltkrieg verwüstete Europa. Sie war Kind und Teenager in den 20 Jahren, in der Weimarer Republik. Sie erlebte den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als junge Frau und dann das Wirtschaftswunder und den Wiederaufstieg Deutschlands.

Luise war immer auf ihre Selbständigkeit bedacht und sie wusste, was sie wollte, und sie sagte auch stets, was sie dachte. Ihrem Blick entging fast nichts. Sie war um die 40, als sie den Führerschein machte. Aber sie hatte auch Zweifel, ob sie den richtigen Mann geheiratet hatte.

Im Nachlass fand sich ein Bild von Oma als Konfirmandin, als Teenager also. Selbstbewusst blickt sie in die Kamera, ein hübsches, junges Mädchen, das dies auch weiß. Damals hatte sie noch alles vor sich.

Man spricht immer von einem „erfüllten Leben“, und ja, das gilt wohl auch für Oma, die zwei Töchter, fünf Enkel und fünf Urenkel hatte. Sie reiste gerne, auch noch im hohen Alter, zum Beispiel auf die Krim und nach Rußland. Ich teilte ihre Liebe zu Rußland, wie sie interessierte ich mich für das Leben von Katharina der Großen und anderen russischen Zaren. Als sie St. Petersburg besuchte, ging für sie ein großer Traum in Erfüllung. Ich habe ihr dann jedes Jahr einen Kalender aus St. Petersburg mitgebracht.

Als sie 90 war, zog sie in ein Wohnheim, und zunächst war sie noch so fit und rüstig wie eh und je. Doch sie wurde gebrechlich, ihr Lebensraum wurde immer kleiner. Der 95. Geburtstag war der letzte, den wir groß mit der Familie feierten. „Kind, werd‘ nicht so alt“, sagte sie immer wieder zu meiner Tante und mir. Doch fast bis zuletzt verfolgte sie die Nachrichten, wusste Bescheid, was in der Welt vor sich ging, las noch die Zeitung (bis sie sie abbestellte, weil die Schrift zu klein und ihr das Lesen zu mühsam war), führte ein kleines Tagebuch. Sie litt sehr unter dem Verlust ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit, als sie für jeden kleinen Handgriff die Pfleger rufen musste. Wie hatte sie immer auf ihr Äußeres geachtet und darauf, dass ihre Wohnung tip top war. Einmal noch ging es ein wenig aufwärts, als sie einen Rollstuhl bekam und lernte, damit umzugehen. Bei einem meiner letzten Besuche fuhr ich sie mit dem Rollstuhl spazieren. Im Aufzug des Wohnheims ist ein Spiegel, und sie sagte, sie erkenne sich gar nicht mehr. Sie zog sich langsam immer mehr in sich selbst zurück. Die Zeit des Abschieds rückte näher.

Nun ist sie wirklich gegangen, wie es ihrem Wunsch entsprach, aber ich vermisse sie sehr. Das Konfirmandinnenphoto habe ich mitgenommen und werde es bei mir aufhängen. Wie sie immer ein Portrait von mir als Kind in ihrem Schlafzimmer hängen hatte. In Gedanken bleibt Oma bei mir und ich denke an einen Spruch von ihr: „Das Leben ist ein Rätsel und wir wissen nicht, was auf uns zukommt.“

Danke für alles, Oma.

Mit Oma an Ostern vor einem Jahr
Mit Oma an Ostern vor einem Jahr

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