soziologie heute

Fachmagazin für Soziologie

HERBERMANN Marc

Sie finden hier die Langfassung der Buchbesprechung von Marc HERBERMANN, veröffentlicht im Fachmagazin soziologie heute, Ausgabe Juni 2018.

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Table of Contents

  1. Einleitung
  2. Gewalt: ein schillernder und problematischer Begriff
  3. Gewalt als umstrittene Grundlage des Staates
  4. Herrschaftssoziologie, Gewaltphänomenologie und Subjekttheorien der Gewalt
  5. Verschwindet die Gewalt im modernen Staat?
  6. Anmerkungen

Theorien der Gewalt

1. Einleitung

Seit 1977 gibt der Hamburger Junius-Verlag die Reihe „zur Einführung“ heraus. Die Bände dieser Reihe, die in jede Westentasche passen, sind handlich, ein wenig kleiner als Taschenbücher anderer Verlage und ungefähr zwischen 100 und 150 Seiten stark. Dieser Umfang erlaubt keine erschöpfende Behandlung der jeweiligen Wissensgebiete und Forschungsfelder, jedoch ermöglicht er einen Überblick: In den ersten Jahren sollte die Reihe ein philosophisch-kritisches Rüstzeug für den „Marsch durch die Institutionen“ (5)[1] liefern. Später ergänzte sie der Verlag durch neue Themen – wie Medientheorie und Wissenschaftsgeschichte. Mit Erkenntnisgewinn las ich die dort verlegten Einführungen über Theodor W. Adorno, Michel Foucault und Jürgen Habermas. Im Jahre 2017 erschien nun „zur Einführung“ der zuerst 2014 veröffentlichte Beitrag „Theorien der Gewalt“ von Teresa Koloma Beck und Klaus Schlichte (ISBN 978-3-88506-080-2) in einer überarbeiteten und ergänzten Fassung. Das Buch ist mit 187 Seiten etwas umfangreicher als die üblichen Veröffentlichungen dieser Reihe.

Der Band beinhaltet eine Auseinandersetzung mit einem weiten Spektrum von Ansätzen, die politisch bedingte und relevante Gewalt begründen, ablehnen oder in ihrem Ablauf erklären. Das Buch besteht aus vier Teilen und einer kurzen Schlussbetrachtung. Die folgenden Ausführungen dienen dazu, die „Theorien der Gewalt“, die dem Autor des vorliegenden Beitrages am wichtigsten erscheinen, komprimiert darzustellen. Er folgt dabei der Darstellung in den fünf Kapiteln. Unter Punkt 6 erfolgt eine Einschätzung des Werkes aus der Sicht des Autors.

In der Einleitung geben die beiden Autoren einen Überblick über die gegenwärtigen, miteinander konkurrierenden (11), teils „normativen“, teils „empirischen“ (15) Theorien zur Gewalt und grenzen den Gegenstandsbereich ihrer Veröffentlichung ab: Es gehe ihnen um eine Darstellung von „Sozialtheorien, die Gewalt als Problem in Prozessen sozialer Ordnungsbildung thematisieren“ (11). Unter „Sozialtheorien“ verstehen sie dabei, im Anschluss an Hans Joas und Wolfgang Knöbel, ein Fachgrenzen übergreifendes Konzept, das auf Theorien sozialen Handelns, sozialer Ordnung und sozialen Wandels verweist (166). Zur Debatte stünden in ihrer Veröffentlichung somit nicht Erklärungsansätze individueller Gewaltbereitschaften und Aggressionen, sondern Theorien, die Gewalt bei „Prozesse[n] der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnungen“ (12) thematisieren. Die Untersuchungen und Veröffentlichungen, die die Autoren zu diesem Zweck vorstellen, „beziehen sich … fast ausschließlich auf politische Phänomene“ in „westlichen Kontexten“ oder europäischen Staaten (16). Freilich lässt sich die Thematik regional auf diese Weise kaum eingrenzen. Denn westliche Staaten streb(t)en danach, ihren Einfluss auszudehnen und Gebiete in allen Erdteilen zu unterwerfen. Daran erinnert das vierte Kapitel.

Bewusst setzen die Autoren nicht ihren Schwerpunkt auf die Erörterung von Kriegen, Kriegsverbrechen, Kriminalität oder Terrorismus. „Sieht man von den Konjunkturen der Debatten über Kriminalität, Terrorismus und humanitäre Interventionen ab, dann wird Gewalt in den Sozial- und Geisteswissenschaften bis heute exotisiert“ (13).

2. Gewalt: ein schillernder und problematischer Begriff

Im zweiten Teil ihres Buches grenzen die beiden Sozialwissenschaftler den Gewaltbegriff ein und von anderen Begriffen ab (35-43), nachdem Sie ihn als „sozialwissenschaftliches Problem“ thematisiert haben (22-35). Die Sozialwissenschaft habe ein Problem mit der Gewalt, da sie das Kind einer fortschrittsgläubigen Aufklärung (29) sei. Insbesondere habe die säkulare liberalistische Kritik an (ökonomisch) unfreien gesellschaftlichen Verhältnissen (siehe 25ff., etwa die Freihandelslehren von Montesquieu, 26) zu diesem Glauben beigetragen. Die Ächtung und Delegitimierung des Krieges führe zum modernen Selbstverständnis der „Gewaltlosigkeit“: Der Unsichtbarkeit der Gewalt in der modernen Gesellschaft; legitim sei ihre offene Anwendung allenfalls gegen renitente Angehörige der Unterschicht oder gegen Barbaren (27). Dennoch übe der Staat weiterhin „diskursiv verschleiert“ (29) Gewalt aus.[2] Die Sozialwissenschaften hätten nun dieses Selbstverständnis der Moderne übernommen. Damit sei Gewalt mit all ihren Schattenseiten, aber auch mit ihrer ordnungsbildenden Funktion aus dem sozialwissenschaftlichen Blickfeld geraten.[3] Marx habe jedoch den Widerspruch zwischen der liberalistischen Theoriewelt und den tatsächlichen Lebensverhältnissen aufgezeigt. Ebenso habe die Frankfurter Schule – und die an sie anknüpfenden Theorien – Gewalt nicht als einen Fremdkörper im Getriebe der modernen Gesellschaft behandelt, sondern als ihren Bestandteil oder als ihre Folge.

3. Gewalt als umstrittene Grundlage des Staates

Der dritte Teil des Einführungsbandes ist, neben dem vierten Teil, eines „der beiden großen Kapitel“ (160) des Buches und mit 58 Seiten das umfangreichste. Hier stellen die Autoren ausgehend von Max Webers Staatsverständnis Theorien der Begründung staatlicher Gewalt vor. In diesem Kapitel behandeln sie sowohl Ansätze christlicher Theoretiker des gerechten Kriege, neuzeitliche Philosophen (etwa Jean Bodin, Thomas Hobbes, John Locke oder Immanuel Kant), die Denkfiguren von Revolutionären, die den Einsatz von Gewalt begründeten sowie die Lehren von Pazifisten, mit denen diese sich für den Nicht-Einsatz von Gewalt einsetzten.

Jean Bodin habe die Idee der Souveränität des absolutistischen Königs entwickelt als einer „allem übergeordneten Herrschergewalt“ (54). Dabei habe er weitgehend auf religiöse Legitimationsmuster verzichtet und damit „erstmals die Idee des modernen Staates“ (54) systematisiert. Hobbes betrachte den Menschen im Naturzustand als feindselig und egoistisch. Sein Streben nach Sicherheit zwinge ihn, „in einem Vertrag das Recht zur Gewaltausübung an den Leviathan“ zu delegieren und sich diesem zu unterwerfen (56). Während bei Hobbes also Zwang zur Staatsgründung führe, sei die Grundlage des Staates bei John Locke das im Naturrecht verbriefte Recht auf Eigentum (59), das die Selbsterhaltung fordere, und bei Immanuel Kant der „gleichsam logische[n] Zwang“ vernunftbegabter Menschen eine Eigentumsordnung vertraglich zu vereinbaren (60). Der bürgerliche Staat habe jedoch im 19. Jahrhundert zunehmend Besitzansprüche des Industrieproletariats abgewehrt (62f.). Carl Schmitt habe durch sein autoritäres Modell des Staates, der eindeutig zwischen „Freund und Feind“ unterscheiden müsse, den Machtaspekt in Webers Staatsauffassung „radikalisiert“ (64). Hermann Heller, auf der anderen Seite, verbinde in seinem Staatsmodell Webers Herrschaftssoziologie mit „einer Theorie des Rechtsstaates“ (67). Der Staat könne, als eine Rechtsgemeinschaft und ein Institutionengefüge aus interagierenden Personen, innergesellschaftliche Konflikte regulieren.

Kritik an staatlicher Gewalt erfolgte in der frühen Moderne vor allem von bürgerlichen Theoretikern, die feudale und absolutistische Ordnungen in Frage stellten (71), später gehe sie insbesondere aus von der Verwerfung des Kolonialismus und Imperialismus sowie von marxistischen Theorien. Auch liefere die angelsächsische Tradition, so etwa John Locke oder die Virginia Bill of Rights, Begründungsmuster für den Widerstand gegen staatliche Gewalt (75). Demgegenüber lasse sich in Deutschland aus den Lehren Luthers und Kants, und auch aus Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes, eher die Duldung vorgegebener Autoritäten ableiten.[4]

An diese Ausführungen schließt sich die Wiedergabe marxistischer Gedanken an, nach denen Gewalt vor allem die Funktion hat, die Ungleichverteilung von Besitz durchzusetzen und abzusichern. Marx und seine großen Interpreten seien keineswegs pazifistisch gesinnt gewesen. Lenin organisierte die Revolution; Mao, Che Guevara und Franz Fanon lieferten unterschiedliche Anweisungen, wie sich Gewalt gegen Staaten und ihr System der kolonialen Ausbeutung einsetzen lässt.

Der Realismus, wie ihn etwa Hans Morgenthau, John Hertz und Kenneth N. Waltz vertritt, sieht indessen in der Gewalt ein Mittel zur Durchsetzung konkreter Staatsinteressen: Staaten sind entweder an ihrem Selbsterhalt interessiert oder an der Vergrößerung ihrer Macht. In einem internationalem System, das kein verbindliches Recht kennt, können sie den Frieden durch Bündnispolitik, durch Aufrüstung und Abschreckung sichern (90-93). Daran anknüpfend erläutern die Autoren die Rolle des Liberalismus bei der Begründung und Entwicklung des Völkerrechts (93-98). Der abschließende Abschnitt des dritten Kapitels (99-105) ist der Darstellung grundsätzlicher Kritik an der Gewalt gewidmet. Sie entspringe humanistischen Appellen (Erasmus von Rotterdam), philosophischen Friedensentwürfen (Herzog von Sully, Immanuel Kant u.a) und komme von pazifistischen Denkern (Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi, Bertha von Suttner).

4. Herrschaftssoziologie, Gewaltphänomenologie und Subjekttheorien der Gewalt

Im vierten Teil ihrer Einführung stellen die Autoren erklärende Theorien der Gewalt vor. Sie kritisieren ein immer noch verbreitetes Diktum in den Sozialwissenschaften, demzufolge exzessive Gewalt in bestimmten Situationen nicht erklärbar sei, insbesondere jene im Rahmen des Nationalsozialismus.

In diesem Kapitel knüpfen sie an Max Webers Herrschaftssoziologie an: Die Beherrschten gehorchen, weil sie an die Legitimität einer bestimmten Ordnung glauben, die ihrerseits durch bestimmte Organisationsformen, etwa einen Herrschaftsstab, Gefolgschaft ermögliche und einfordere. Heinrich Popitz habe mit seiner Machttheorie diesen Ansatz anthropologisch ergänzt. So zwinge den Menschen auch seine Verletzungsoffenheit und eine ihm dadurch gegebene Furcht vor den Ansprüchen der Mächtigen, sich in eine Ordnung einzufügen. Hannah Arendt dagegen sehe – im Gegensatz zu traditionell eher soziologisch argumentierenden Autoren – in der Gewalt keine Form der Macht, sondern ihr Gegenteil. Ein Übermaß an Gewalt deute in Gesellschaften auf einen Mangel an Macht hin.[5]

Die phänomenologische Gewaltforschung vergebe keine modischen „Labels“, mit der sich Phänomene scheinbar dingfest machen lassen (132). Sie rekonstruiere „Mikrodynamiken der Gewalt“ (122), ergründe aber nicht deren Ursachen. Trutz von Trotha gehe es um die Beschreibung von Gewalt und ihrer körperlichen Spuren aus der Perspektive der Handelnden. Gewalt könne auch ohne das Wollen der Beteiligten eskalieren. Gewalt aus der Sicht von Trutz von Trotha stelle einen sozialen Grundtatbestand dar, nicht nur einen „Sonderfall des Sozialen“ (125). Wolfgang Sofkys analytische Beschreibungen über das Konzentrationslager sehen dagegen in der Gewalt nicht mehr ein Mittel für angebbare Zwecke, sondern einen Selbstzweck. Als dritten Sozialforscher, der Gewalt mit einem phänomenologischen Ansatz erforsche, stellen die Autoren Jan Philipp Reemtsma vor. Er diskutiere Gewalt nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern untersuche körperliche Erfahrungen von Gewaltopfern. Dabei unterteile er Gewalt phänomenologisch insofern (130ff.), als er unterscheide, ob die Akteure mit Gewalt einen bestimmten Zweck im Raum anstreben (lozierende Gewalt), ob sie etwa den Körper beseitigen (dislozierende Gewalt) oder transportieren wollen (captive Gewalt). Bei der raptiven Gewalt gehe es um die Nutzung des Körpers und bei der autotelischen Gewalt um dessen Zerstörung.

Staaten können, sofern ein ausreichender Legitimitätsglauben der Beherrschten gegeben ist, ihre Herrschaft durch einen Herrschaftsstab sichern. Klaus Schlichte untersuchte bewaffnete Gruppen, die in Bürgerkriegen die Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet erstreben. Diese können nur dann ihre Herrschaft auf Dauer stellen, wenn sie auch die Wahrnehmungen der involvierten Parteien und der Bevölkerung beeinflussen, und zwar in Richtung auf ein breites Anerkenntnis der Legitimität der neu zu schaffenden Ordnung (135f.).

Der vierte Teil stellt eine Fülle unterschiedlicher Theorien dar. So geht etwa der Rational-choice Ansatz des amerikanischen Politikwissenschaftlers Stathis Kalyas von nutzenmaximierenden Akteuren aus, die durch den gezielten Einsatz von Gewalt Gefolgschaft erzwingen können. Weitere in diesem Kapitel behandelte Modelle seien hier nur erwähnt, etwa Theorien über Gewaltordnung und Gewaltmärkte, militärsoziologische Forschungsarbeiten, Ansätze „an der Schnittstelle von Gewalt und Genderforschung“ (156), die Theorie über den Prozess der Zivilisation oder die „Explikation und Differenzierung der emotionssoziologischen Intuitionen in der Interaktionstheorie bei Erving Goffmann“ (143) von Randall Collins.

5. Verschwindet die Gewalt im modernen Staat?

In ihrem kurzen Schlusskapitel greifen die Autoren ihre These vom Verschwinden der Gewalt im sozialwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs noch einmal auf. Ihr zufolge leiteten auf humanitäre Interventionen abzielende Theorien ihre Begründung ab aus einer Welt, die zunehmend in zwei Zonen zerfalle: in eine moderne, zivilisierte und in eine barbarische, randständige, die es zu entwickeln gelte. Doch wer auf Intervention setze, so könnte man die Kritik der Autoren an diesen Theorieströmungen verstehen, sollte erst einmal genau die zur Disposition stehenden Gewaltphänomene untersuchen. Ebenso schaffe eine Politik der Intervention in Gebiete, die von raschen sozialen Wandel geprägt sind, neue Legitimationsprobleme. Interventionspolitik vergrößere nur die Kluft von fortschrittlichen und randständigen Gesellschaften.

6. Anmerkungen

Das vorliegende Buch hat viele Stärken. Auf gedrängtem Raum stellen die Autoren zahlreiche disparate Theorieansätze vor. Die vorliegende Einführung gab mir die Möglichkeit, konkrete Einblicke in bisher kaum bekanntes Terrain zu erhalten und ebenso Bekanntes zu rekapitulieren.

Während Fragen der Rechtmäßigkeit und Legitimation politischer Gewalt ein Thema der politischen Philosophie sind, gehört die Suche nach Erklärungen für die Entstehung und Funktion von Gewalt eher zu den empirischen Sozialwissenschaften, etwa zur politischen Soziologie. Die beiden Autoren scheuen sich nicht, die übliche Trennung dieser beiden Strömungen zu überwinden und Ansätze beider Richtungen in einem Band zu behandeln. Ihnen gelingt der Spagat, sowohl „normative“ als auch „empirische“ Theorien (15) zu trennen bzw. diese sinnvoll miteinander zu verknüpfen.

Gelingt dies den Sozialwissenschaften? Mein Eindruck ist, dass diese damit ein Problem haben, auch heute noch, fast 100 Jahre nach Max Weber. Verschiedene Ansätze konzentrieren sich gegenwärtig entweder kühl-distanzierend auf die Beschreibung, teilweise auf die Erklärung sozialer Sachverhalte (man denke etwa an die Systemtheorie, den Sozialkonstruktivismus, realistische Ansätze in der Politikwissenschaft oder an eine wertneutrale, gezähmte Friedens- und Konfliktforschung), sie dringen damit aber nur begrenzt zu den Ursachen gesellschaftlicher Probleme und zwischenstaatlicher Konflikte vor. Oder sie erheben volkspädagogisch den Anspruch, durch ihre Wirklichkeitsdeutung verbindliche Vorgaben für die Politik und das Zusammenleben zu geben (etwa bestimmte liberale Ansätze oder das Gender-Mainstreaming). Heute finden sich immer noch Publikationen, die wenig die Ebene der Fakten und die der persönlichen Wertung auseinanderhalten, die nicht, wie es im Journalismus heißt, Bericht und Kommentar trennen. Die Kritische Theorie oder das Hamburger Institut für Sozialforschung, dessen Forschungsarbeiten im vierten Teil des Buches zur Sprache kommen, trennen ebenso weniger ernsthaft, um es vorsichtig auszudrücken, einen Werte vorgebenden Impetus von einer sachlich nüchternen „empirischen Gewaltforschung“ (138).[6]

Sorgfältig explizieren die beiden Sozialwissenschaftler grundlegende Begriffe in den „Sozialtheorien der Gewalt“. Dabei gehen sie – im Gegensatz zu einigen Theorieströmungen, die bereits soziale Kategorisierungen oder die Ungleichverteilung von Chancen mit dem Gewaltbegriff kennzeichnen –  von einem engen, konkreten Begriffsverständnis aus. Genau grenzen sie ihr Verständnis von Gewalt als „absichtliches Verletzungshandeln“ (29) ein und von anderen, diesem Begriff nahestehenden Termini (Macht, Herrschaft, Aggression und Konflikt) ab. Somit unterlassen sie es, bewährte soziologische Grundbegriffe zu verwässern und vermeiden eine inflationäre Verwendung des Gewaltbegriffes, etwa für Phänomene, die Menschen als ungerecht, ungleich oder sprachlich diskriminierend wahrnehmen. Dennoch ließe sich der Umfang dieses Begriffes sinnvoll erweitern, etwa um die Komponente „absichtliches Zerstörungshandeln“. Dies wäre ein Handeln, das darauf abzielt, Hindernisse zu beseitigen, und dabei die Verletzung von Körpern billigend in Kauf nimmt, aber nicht primär darauf ausgerichtet ist.[7]

Konzepte über „Aggression“ haben, entgegen der Auffassung der Autoren, die diese mehr dem „evolutionspsychologischen und neurowissenschaftliche[n]“ (42) Begriffsrepertoire zurechnen, durchaus eine Tradition in der Sozialpsychologie, etwa bei der Erforschung von politischen Führungsstilen,[8] in der Lerntheorie oder in der (modifizierten) Frustrations-Aggressions-Hypothese.[9] Ebenso gehört „Aggression“ zwar nicht zum Standardvokabular der Sozialphilosophie, der Politikwissenschaft oder der historischen Forschung; dennoch ist dieser Begriff auch dort relevant.[10]

Eine weitere Stärke des Buches liegt darin, dass es sowohl viel diskutierte Theorien vorstellt: etwa die Theorie des gerechten Krieges (88-90), das Hobbessche Staatsmodell (55-58) oder die Herrschaftssoziologie von Max Weber und darauf aufbauend den Realismus und Liberalismus in der Theorie der Internationalen Beziehungen, aber ebenso weniger bekannte Ansätze diskutiert: so die These von der Recht setzenden Funktion der Gewalt von Walter Benjamin (105) oder ausführlich Subjekttheorien (144-158). Die Autoren behandeln überwiegend westliche Theorien und konzentrieren sich dabei auf deutschsprachige Autoren.[11] Dies liegt bei einer deutschsprachigen Publikation auch nahe.

Auf Seite 101 heißt es: „Kant zufolge sind vor allem die demokratische Verfasstheit von Staaten und die Errichtung eines Staatenbundes nötig, um die Chancen auf dauerhaften Frieden zu erhöhen“. Verschiedene Autoren stellen Kant heute als Vorreiter eines durch Demokratien gestifteten Friedens dar. Kant sieht die Demokratie als Staatsform jedoch eher kritisch. Der erste Definitivartikel von Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf  lautet: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“ (Kant 1983, 204). Die „Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht“, schreibt Kant in der Erläuterung dieses Artikels, „ist… entweder republikanisch oder despotisch“. Kant ordnet die Demokratie „im eigentlichen Sinne des Wortes“ dem Despotismus zu. So wie ich Kant verstehe, legt er vor allem Wert auf eine wirksame Repräsentation des Volkes und eine funktionierende Gewaltenteilung. Einigen der heutigen Demokratien fehlt dagegen eine Gewaltenteilung. Trotz eines formalen Parteiensystems repräsentieren sie nicht das Volk, sondern nur deren Machteliten, es herrscht politischer Stillstand. In anderen Staaten setzt die Regierung einschneidende politische Reformen durch ohne Parteien, die miteinander konkurrieren.

Das Buch bewegt sich durchweg auf hohem sprachlichem Niveau und bleibt gerade deswegen verständlich. Das ist bei anderen Bänden in der Reihe „zur Einführung“ nicht der Fall: Streckenweise schottet sich die bereits eingangs erwähnte Darstellung der Theorie von Theodor W. Adorno hermetisch ab.[12] Zum besseren Verständnis ihres Gedankenganges setzen die Autoren der „Theorien der Gewalt“ zudem an entscheidenden Stellen Wegmarken und bereiten somit ihre Leser und Leserinnen auf die weiteren Ausführungen vor, vielleicht etwas zu gewissenhaft – gemessen an der Länge des Buches. Ein typisches Leitgerüst sei hier wieder gegeben: „Deshalb werden wir uns in diesem Kapitel zunächst … zuwenden, ehe wir in den beiden folgenden Kapiteln … Zunächst werden wir darstellen … werden wir dann … diskutieren“ (23). Eine verständliche und überschaubare Darstellung ist nicht nur eine formale Nebensächlichkeit, sondern zeigt selbst schon den wissenschaftlichen Gehalt einer Abhandlung.[13] Etwas sorgfältiger dagegen hätten die Autoren und / oder die Verlagslektoren das Literaturverzeichnis prüfen können.[14]

Die Autoren nehmen oft die übergeordnete Perspektive gesellschaftlicher Selbstbeschreibung ein, so dass ihr eigener Standort nicht immer klar wird. Einerseits scheinen Sie etwa die These von der „relative[n] Gewaltarmut der sozialen Ordnung“ (27), oder im Schlusskapitel, die Auffassung vom „Verschwinden der Gewalt“ in der modernen Gesellschaft, die Gewalt in die „barbarischen Zonen“ (161) verdränge, für plausibel zu halten. Andererseits referieren sie aber Theorien und Phänomene, die den „Mythos von der gewaltfreien Moderne“ (31, 148, 162) belegen. Etwa die marxistische Vorstellung von der „ursprünglichen Kapitalakkumulation“ (30), der gewaltsamen Enteignung der urprünglichen Produzenten von ihren Arbeitsmitteln, und die These des staatlichen Gewalteinsatzes zum Zwecke der Besitzstandswahrung der herrschenden Klassen (78). Ebenso gegen das Verschwinden der Gewalt in der modernen Gesellschaft spricht die von den Autoren referierte Vorstellung von der Disziplinarmacht des Staates, die dieser gewaltsam ausübt (151-154).

Beim Bestreben die Welt – und damit auch politisch wirksame Gewalt – zu verstehen muss man nicht den allmächtigen Massenmedien einen bevorrechtigten Zugang zur Wirklichkeit zugestehen, wie dies einst Niklas Luhmann tat.[15] Dennoch ist offensichtlich: Gewalt und ihre öffentliche Wahrnehmung als bedrohlich, zerstörerisch oder harmlos entspringt zu einem großen Teil ihrer medialen Präsentation. Ohne Manipulation der öffentlichen Meinung und gezielten Medieneinsatz zur Mobilisierung von Unterstützung sind moderne Kriege nicht denkbar. Über den Beitrag, den mediale Mechanismen bei der Wahrnehmung und Entstehung von Gewalt spielen, erfahren wir kaum etwas in den „Theorien der Gewalt“.

Es sei hier exemplarisch auf die Rolle der Massenmedien bei der Wahrnehmung und Entstehung von Gewalt eingegangen. Die Leitmedien berichten wenig über staatlich (nicht) ausgeübte Disziplinarmacht. Darunter fallen Entgleisungen im Justizsystem oder auch der massenweise auftretende illegale Grenzübertritt. Auch erfahren wir wenig über die Opfer westlicher Militärinterventionen und die Kriege in Mali und Nigeria. Dagegen berichten die etablierten Medien ausführlich über vereinzelte Terror-Anschläge oder Gewalttaten mit einem geheimdienstlichen, ideologischen oder „islamistischen Hintergrund“ – noch bevor gesichertes Wissen über den Tathergang, die Opfer und die Motive der Täter besteht. Diese medial vermittelten Taten sorgen für Alarmstimmung, sie können als Modelle für spätere Gewaltaktionen dienen. Ebenso können sie als Begründung für sogenannte „Militärschläge“ fungieren. Es liegt nahe, dass die herrschende politische Kaste die etablierten Medien als ihr Sprachrohr nutzt.[16]

Berichten westliche Leitmedien, auf der anderen Seite, kritisch über die kriegerischen Einsätze westlicher Staaten gegen muslimische und arabische Länder? Westliche Staaten und ihre staatlichen und paramilitärischen Verbündeten haben in den vergangenen Jahrzehnten in afrikanische, arabische und muslimische Staaten wiederholt militärisch interveniert. Als Folge dieser Interventionen lässt sich einerseits eine zunehmende Destabilisierung und Anomie in dieser Region erkennen. Auf der anderen Seite nimmt aufgrund der Interventionen die Solidarität der Bürger zu, wie in Syrien. Außerdem tauchen zunehmend wieder vormoderne Kategorien auf: Ethnische und religiöse Zugehörigkeiten als Ordnungskriterien für ganze Landstriche lösen die Verunsicherung und Anomie scheinbar ab. Die verheerende Sicherheitslage, die fast wöchentlichen Anschläge, die sich in Afghanistan oder dem Irak infolge westlicher Militärinterventionen ereignen, scheinen für westliche Medien weniger problematisch zu sein.

Mehr Antworten hätte ich gerne auf die Frage erhalten: Inwiefern führt Gewalt auf der Ebene des internationalen Systems, etwa die durch Hegemonialmächte verkörperte, angedrohte oder ausgeübte, zum Wandel (über-)regionaler Ordnungsstrukturen oder zur Umbildung des Völkerrechts? So gibt es einige Staaten, denen der Aufbau von Atomstreitkräften offenbar „erlaubt“ ist, obwohl sie internationale Verträge unterschrieben haben, die deren schrittweisen Abbau fordern[17] und andere Staaten sollen dazu verpflichtet werden, nicht nur auf Nuklearwaffen, sondern auf jedwede moderne Militärtechnologie zu verzichten, damit sie künftig dazu in der Lage sind, wehrlos Militärinterventionen über sich ergehen zu lassen. Die USA und Israel suchen zunehmend die nukleare Aufrüstung ihrer Kontrahenten zu verhindern, bauen aber gleichzeitig selbst ihre Atomstreitkräfte aus.

Nach der UN Charta ist die Androhung und der Einsatz von Gewalt nicht legitim. Allenfalls in bestimmten Ausnahmefällen, als Selbstverteidigungsmaßnahme, oder wenn der Weltfriede auf dem Spiel steht. Erst wenn alle nicht militärischen Mittel ausgeschöpft sind, ist es laut den UN-Statuten nach Kapitel VII legitim, den Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen zur Wiederherstellung des Weltfriedens zu beschließen. Wir erleben seit vielen Jahren wahllose Androhungen von Gewalt[18] und strategielose Interventionen, denen vorher weder ein Angriff des Angegriffenen auf die Interventionsmächte vorausging, noch eine Bedrohung des Weltfriedens. Ebenso erweist sich die Berufung militärisch intervenierender Staaten auf Menschenrechte (161) oder die sogenannte „Responsibility to Protect“ eher als ein Deckmantel für geostrategische Interessen als ein durch Tatsachen erhärteter Imperativ. Die „Responsibility to Protect“ sieht zudem friedliche Interventionsmaßnahmen vor. Sie schließt jedoch militärische Strafaktionen aus, denen keine genaue Untersuchung über die Umstände vor Ort vorausging.[19]

Man könnte nun fragen: Inwiefern geht von den wiederholten Verstößen gegen geltendes Völkerrecht und den verbreiteten Doppelstandards eine Beschädigung der internationalen Rechtsordnung aus? Oder tragen Rechtsverstöße und Doppelstandards dialektisch zur Weiterentwicklung der Rechtsordnung bei? Vielleicht sind solche Überlegungen spekulativ. Doch diese Fragen lassen sich mit einiger Berechtigung stellen und auch empirisch durch die Entwicklung des Völkerrechts prüfen.

Die Autoren, so wie ich sie verstehe, wollen mit ihren „Theorien der Gewalt“ noch grundsätzlicher ansetzen. Dabei beziehen sie sich an einigen Stellen exemplarisch auch auf Kriege (etwa auf den Bürgerkrieg, den Befreiungskrieg oder den gerechten Krieg). Doch bei den Kriegen, bei der Revolution, der Gewaltherrschaft des Kolonialstaates und anderen Gewaltverhältnissen steht das Charakteristische im Vordergrund, nicht die historische Rekonstruktion. Den Autoren geht es in diesem Buch um das Typische: Es gelingt ihnen, typische (De-)Legitimationsmuster von politisch bedingter und relevanter Gewalt zu rekonstruieren und bestehende Erklärungsansätze ihrer Erscheinungsweisen zu systematisieren.

 

Teresa Koloma Beck lehrt als Professorin für Soziologie der Globalisierung an der Universität der Bundeswehr München.

Klaus Schlichte forscht und lehrt an der Universität Bremen: als Inhaber des Lehrstuhls „Internationale Beziehungen: Politik in der Weltgesellschaft“ und als Sprecher des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien.

Marc Herbermann unterrichtet in Südkorea an der Kyonggi Universität in Suwon als Assistenzprofessor deutsche Sprache und Landeskunde.

 

Verwendete Literatur

Ban, Ki-moon. 2015. A vital and enduring commitment: implementing the responsibility to protect. Report of the Secretary-General. Hg. von United Nations General Assembly Security Council. 13. Juli.

Benz, Wolfgang und Hermann Graml, Hrsg. 2002. Fischer Weltgeschichte. Das Zwanzigste Jahrhundert III. Weltprobleme zwischen den Machtblöcken  Rudolf von Albertini, Franz Ansprenger, Hans Walter Berg, Dan Diner, Fürgen Domes und Marie-Luise Näth, Imanuel Geis, Erdmute Heller,. 11. Aufl. Bd. 36. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

—, Hrsg. 2003. Fischer Weltgeschichte. Das Zwanzigste Jahrhundert II. Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945–1982. 10. Aufl. Bd. 35. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Berkowitz, Leonard. 1993. Aggression – Its Causes, Consequences, and Control. New York u.a.: McGraw-Hill.

Gill, Bernard. 2002. Organisierte Gewalt als „dunkle Seite“ der Modernisierung. Soziale Welt 53, Nr. 1: 49–65.

Hamm, Bernd. 2007. Medienmacht – wie und zu wessen Nutzen unser Bewusstsein gemacht wird. In: Medienmacht und Widerspruchserfahrung, hg. von Peter Bathke, Hermann Kopp, und Werner Seppmann, 9–36. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Kant, Immanuel. 1983. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagagogik. Werke in sechst Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VI. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Lewin, Kurt, Ronald Lippitt und Ralph K. White. 1939. Patterns of aggressive behavior in experimentally created social climates. Journal of  Social Psychology 10, Nr. 2 (Mai): 271–299.

Luhmann, Niklas. 1996. Die Realität der Massenmedien. 2. erweiterte. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Mackert, Jürgen. 2013. Gewalt in Ordnungskonflikten als Problem der erklärenden Soziologie. Berliner Journal für Soziologie 23: 91–113.

Münkler, Herfried. 2005. Die neuen Kriege. 2. Reinbeck: rowohlt.

Musial, Bogdan. 2011. Der Bildersturm – Aufstieg und Fall der ersten Wehrmachtsausstellung. Bundeszentrale für politische Bildung. 1. September. http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53181/die-erste-wehrmachtsausstellung?p=all.

Parker, R.A.C. 2003. Fischer Weltgeschichte. Das Zwanzigste Jahrhundert I. Europa 1918–1945. Hg. von R.A.C. Parker. 10. Aufl. Bd. 34. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Schiefelbein, Peter. 1990. Adornos „Negative Dialektik“. In: Adorno zur Einführung. Mit Beiträgen von Peter Schiefelbein und Hans-Martin Lohmann, 75–87. 4. überarb. und erw. Aufl. Hannover – Hamburg: Edition Soak im Junius Verlag.

Trump, Donald. 2017. Remarks by President Trump to the 72nd Session of the United Nations General Assembly. 19. September, New-York. https://www.whitehouse.gov/briefings-statements/remarks-president-trump-72nd-session-united-nations-general-assembly/.

Ulfkotte, Udo. 2014. Gekaufte Journalisten. 5. Aufl. Rottenburg am Neckar: Kopp.

Zinterer, Tanja. 2011. Aggression. In: Handwörterbuch Internationale Politik, hg. von Wichard Woyke, 7:302–323. 12. Bonn – Opladen: Barbara Budrich.

 

Anmerkungen:

[1]    Im Folgenden beziehen sich die Zahlenangaben auf die Seitenangaben des besprochenen Werkes „Theorien der Gewalt“.

[2]    Diesen Gedanken vertiefen die beiden Autoren im vierten Abschnitt „Gewalt und Subjekt“ des vierten Kapitels. Dort stellen sie, anknüpfend an eine Erörterung des Zivilisationsprozesses, Foucaults Theorie der disziplinierenden Gewalt vor: Die Staatsmaschinerie erreicht Gefolgschaft aufgrund der allgegenwärtig operierenden Macht, die Fremd- in Selbstzwänge verwandelt („Dressur“), so dass die Subjekte „von selbst“ wissen, was zu tun sei (151-154).

[3]    Ähnlich dazu Bernhard Gill (Gill 2002) und Jürgen Mackert, der von der „Modernisierung als Voraussetzung und Folge des Krieges“ spricht (Mackert 2013, 52).

[4]    Auf Seite 76 sprechen die Autoren von „Artikel 4, Absatz 20 des Grundgesetzes“ meinen aber offensichtlich Artikel 20, Absatz 4.

[5]    Übertragen auf die heutige Staatenwelt hieße das: Einige Staaten festigen ihren Einfluss durch Handel und Kooperation, während andere Gefolgschaft durch Drohungen und überlegene Machtmittel erzwingen wollen und damit im Grunde genommen ihre Machtlosigkeit zeigen. Dies erinnert an das Libretto aus Jesus Christ Superstar: „Neither you, Simon, nor the fifty thousand, nor the Romans, nor the Jews, nor Judas, nor the twelve, nor the priests, nor the scribes, nor doomed Jerusalem itself understand what power is, understand what glory is, understand at all, understand at all.“

[6]    Erinnert sei beispielsweise an die sogenannte „Wehrmachtsausstellung“. Nicht nur aufgrund ihres entlang vorgegebener Kategorien manipulierten Bildmaterials erhitzte sie in Deutschland die Gemüter (Musial 2011). In ähnlicher Weise sind dem amerikanischen Politikwissenschaftler und Historiker Daniel Jonah Goldhagen in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ methodische Fehler unterlaufen. Um seine These vom tief in der deutschen Bevölkerung – quasi genetisch – verwurzelten „eliminatorischen Antisemitismus“ zu belegen, gab er Originaltexte selektiv oder verfälscht wieder.

[7]    Militärische Gewalt kommt zur Einschüchterung und Machtdemonstration gezielt gegen Menschen zum Einsatz. Herfried Münkler illustriert diese These an der Funktion des Massakers in der modernen Kriegsführung (Münkler 2005, 29ff, 234). Tatsächlich erleidet, trotz aller Rede über angebliche Präzisionswaffen, die Zivilbevölkerung immer wieder hohe Verluste. Die Neutronenbombe soll Menschen eliminieren, aber militärisches Material intakt lassen. Auf der anderen Seite richtet sich instrumentelle Gewalt bei effektiven Militäreinsätzen im Rahmen eines Krieges nicht primär auf die Verletzung von Menschen, sondern auf die Beseitigung von Hindernissen oder Gefahren (seien dies Flughäfen, Kriegsgerät oder Stützpunkte) oder die Einnahme von Positionen. Zivilisten, die bei diesen Einsätzen ums Leben kommen, fallen im militärischen Jargon unter die Rubrik „Kollateralschaden“.

[8]    Vgl. Lewin, Lippitt und White 1939.

[9]    Siehe z.B. Berkowitz 1993.

[10]  Kant benutzt das Wort in § 56 seiner Rechtslehre, wo er den Naturzustand zwischen Staaten beschreibt. Die UN sieht ihren Zweck unter anderem darin, „acts of aggression“ zu verhindern (Artikel 1). Im Lexikon der Politik erschien ein Eintrag über Aggression von Tanja Zinterer (Zinterer 2011) und in den drei Bänden über das 20. Jahrhundert der „Fischer Weltgeschichte“ taucht der Begriff „Aggression“ 42 Mal auf (Benz und Graml 2003; Benz und Graml 2002; Parker 2003).

[11]  Etwa Immanuel Kant, Karl Marx, Max Weber, Carl Schmitt, Hermann Heller, Heinrich Popitz, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Jan Philip Reemtsma oder Bertha von Suttner.

[12]  Dort heißt es auf Seite 79: „In den mimetischen Impulsen artikuliert sich das individuelle Subjekt weit über den wissenschaftlich sanktionierten Erfahrungsgehalt hinaus, den ihm die kategorial gefügte Einheit seiner transzendentalen Subjektivität vorschreibt. Das mimetische Vermögen begründet die Möglichkeit einer geistigen, unreglementierten Erfahrung, die den philosophischen Gehalt in einer sachhaltigen begrifflichen Bestimmung aus den Objekten der Erfahrung selbst zu entwickeln sucht, anstatt ihn als subjektive Setzung den Objekten zu oktroyieren“ (Schiefelbein 1990).  Freilich erschließt sich der Sinn dieses Satzes erst aus dem Zusammenhang und seinem Platz im Kapitel über „Negative Dialektik“, das dem uneingeweihten Leser einiges an Verständnisleistungen abverlangt.

[13]  Nach Karl Popper verhindert eine geschraubte und vielschichtige Ausdrucksweise nicht nur das Verständnis, sondern auch die Möglichkeit, einen Satz zu widerlegen. Im Studium öffnete mir die Lektüre von Howard Beckers „Writing for Social Scientists“ die Augen für die Gründe und Funktionen solcher Verschleierungsversuche im wissenschaftlichen System. Ich habe den Eindruck: Im deutschen Sprachraum ermöglicht eher Unverständlichkeit, weniger die ernsthafte Explikation von Begriffen und der klare Ausdruck akademische Karrieren.

[14]  Im Buch verweisen sie zwar auf Werke folgender Autoren: Coser 1956 (24), Aries 1985 (27), Tolstoi 1986 (102) und Barnett 2011 (171). Doch diese tauchen nicht im Literaturverzeichnis auf.

[15]  „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.1 Das gilt auch für Soziologen …“ (Luhmann 1996, 9). Luhmann erlebte erst den Anfang des Internets. Das politische System sei zwar mit den Massenmedien strukturell gekoppelt. Doch Luhmann geht aus von einem geschlossenen System der Massenmedien mit eigenen Gesetzmäßigkeiten: ohne Kommunikation mit dem Publikum und ohne politische Vorgaben.

[16]  Vgl. Hamm 2007 und Ulfkotte 2014.

[17]  http://disarmament.un.org/treaties/t/npt

[18]  Ein Tiefpunkt dieser Androhungen ist die Rede des US-Präsidenten am 19. September 2017 vor der UN in New-York. Entweder zeigte der amerikanische Präsident mit seiner Rede, dass er die Prinzipien der UN nicht kennt. Oder er wollte demonstrieren, dass sie ihm gleichgültig sind. „The United States has great strength and patience, but if it is forced to defend itself or its allies, we will have no choice but to totally destroy North Korea. Rocket Man is on a suicide mission for himself and for his regime“ (Trump 2017). Jedenfalls hat sich, auch infolge der amerikanischen Macht-Politik, eine Wiederannäherung der beiden koreanischen Staaten vollzogen.

[19]  „First, the choice of tools employed by the international community needs to be better shaped by timely and accurate knowledge of the circumstances on the ground and well informed judgement about the consequences of employing different measures. Member States have an obligation to seek the best and most impartial information about vulnerable populations, the intentions of potential perpetrators, and political and other dynamics which could lead to atrocity crimes. It is also their responsibility to anticipate, as far as possible, any harmful effects of their policy responses and to mitigate those potential consequences in their plans for collective action. These factors need to be fully considered in the decision-making of relevant international and regional bodies, including the Security Council“ (Ban 2015, 12f).