20. Etappe: Rifugio San Sebastiano – Rifugio Sommariva Pramperet

Auf dem Weg zum Rifugio Sommariva Pramperet

Am Morgen müssen wir das Frühstück suchen. In der gemütlichen Gaststube ist niemand zu finden. Kein Gast, kein Beniamino in Sicht. Wir wundern uns. Es ist 7.00 Uhr durch. Gestern Abend hat Beniamino uns extra versichert, dass er früh aufstehen möchte. Wir setzen uns an einen Tisch neben dem Kamin. Einige Minuten später steht der Hüttenwirt in der Tür. „Frühstück ist eine Etage tiefer,“ verkündet er freudestrahlend. Im Keller sitzt schon die französische Reisegruppe und lässt sich ihr Frühstück schmecken. An unserem Nebentisch hat das junge schwäbische Pärchen Platz genommen.

Wir stellen fest, dass wir langsam kein Weißbrot mehr sehen können. Die Alternative – Zwieback – ist allerdings auch keine richtige und so gibt es wie schon in den vergangenen zwei Wochen eben Weißbrot. Als wir uns von Beniamino verabschieden, wünscht er uns eine gute Reise. „Grüßt Venedig und ich hoffe wir sehen uns wieder Giulia und Sebastian!“

Zwanzig Minuten nach 8.00 Uhr laufen wir los. Nach einem wundervollen Sonnenaufgang in den frühen Morgenstunden, haben sich die Wolken schon wieder verdichtet. Eine ganze Weile laufen wir an der Passstraße bergab bis wir endlich wieder abseits befestigter Wege wandern. Zwei Männer in ihren Fünfzigern mit Trekkingrucksäcken überholen uns in zügigem Schritt. Der Luftzug, den sie hinterlassen, bleibt noch einige Sekunden stehen – ein Hauch von Essig und kaltem Schweiß. Ein Glück sind wir an der frischen Luft, denke ich.

Die Route führt uns erst durch Wälder später wieder steil auf felsigem Gelände nach oben bis auf die Forcella Dagarai. Teils hängen die Wolken dick und grau zwischen den schroffen Bergspitzen. Wir fürchten geradewegs in ein Unwetter hineinzulaufen. Doch es bleibt weitgehend trocken. Verlassen steht die Moschesin-Alm mit ihren verrosteten Dächern vor uns. Wanderer haben wir heute bisher kaum getroffen, obwohl wir wieder auf dem Dolomitenhöhenweg 1 unterwegs sind. Langsam sind wir am Rande des Nationalparks der Belluneser Dolomiten angekommen. Diesen werden wir in den kommenden Tagen durchqueren. Laut Wanderführer wurde der Park 1990 gegründet, um die Artenvielfalt zu erhalten. Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen der Alpen waren die südlichen Dolomiten während der letzten Eiszeit nicht vergletschert, wodurch hier bis heute Arten leben, die andernorts längst ausgestorben sind.

Obwohl wir nun schon seit Tagen durch diese Landschaft laufen, lösen die Dolomiten, die wie spitze Zähne aus dem Boden ragen, noch immer Faszination in mir aus. Es ist kaum vorstellbar, dass die weißen Felsen aus Kalk und Magnesiumoxid am Meeresgrund einmal riesige Korallenriffe bildeten. Welche Kräfte müssen gewirkt haben, als sich der Boden zu diesem Gebirge auffaltete?

Wie spitze Zähle ragen die Dolomiten aus der Landschaft.

Nach nur vier Stunden erreichen wir schon unser heutiges Etappenziel – das Rifugio Sommariva Pramperet. Wenn keine anderen Gäste mehr kommen, haben wir das Sechsbettzimmer für uns, versichert der Hüttenwirt. Gerade beginnt der Mittagsansturm. Wir setzen uns auf die Terrasse und freuen uns auf eine ordentliche Portion Pasta. Immerhin soll die hier stolze 10,-€ kosten. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuße. Das kleine Knäuel Bandnudeln bedeckt nur spärlich den Tellerboden. Nach drei Gabeln ist der Teller leer und der Magen nicht einmal halbvoll. Zum anhaltenden Hunger, kommt Frust über das kühle, wolkige Wetter und die lange Wartezeit bis zum Abendessen. Sebastian will weiterlaufen. Doch in den nächsten zwei Stunden könnte es heftig gewittern. Über die Forcella di Citta würden wir es jetzt auf keinen Fall mehr schaffen. Und so bleiben wir an Ort und Stelle und die Stimmung im Keller. Erstmals auf unserer Reise bin ich genervt von der Zeit, die wir gezwungenermaßen hier verbringen müssen. Auf Menschen reagiere ich in diesem Moment allergisch und setze mich deshalb auf die hinterletzte Bank vor der Hütte.

Am Nachmittag treffen Matthias (aufmerksame Leser erinnern sich an den jungen Mann mit Elefantenhose vom Rifugio Vazzoler) und seine Wandergruppe an der Hütte ein. Als es wenig später wieder ruhiger wird, weil die Tagesgäste zum Abstieg aufbrechen, kommt er mit seinem Bier an meinem Tisch vorbei. „Na, schlechte Stimmung?“ fragt er. Offenbar strahle ich nicht gerade Harmonie und besondere Offenheit aus. „Geht so. Wir sind das Hüttentingeln heute etwas Leid… Immer wieder erzählt man anderen Leuten seine Lebensgeschichte… Das schlaucht.“ antworte ich. „Hm, verstehe und da komme ich und quatsch dich schon wieder an.“ Er lacht. „Bei uns ist aber auch die Luft ein wenig raus. Irgendwie ist der Höhepunkt vorbei. Die letzten Tage sind wie eine permanente Wiederholung gewesen. Aber jetzt muss man es auch noch zu Ende bringen,“ meint Matthias. „Ja, so ist es,“ stimme ich zu. Gedankenverloren schaut er in die Ferne. „In der Ebene wird es sicher noch einmal ganz anders. Wir haben in der Gruppe schon diskutiert, ob es sein muss oder ob wir einfach den Zug bis Venedig nehmen. Aber irgendwie ist es auch eine Art auslaufen.“ Auslaufen. Dieses Wort bleibt in der Luft und in meinen Gedanken hängen. Für mich hat das Auslaufen schon gestern begonnen. Morgen werden wir dann die letzte Nacht in den Dolomiten verbringen, bevor es nach Belluno geht.

Eigentlich ist die Zeit viel zu kostbar, um sie mit schlechter Laune zu verbringen, auch wenn das Wetter kurz darauf vollends in sich zusammenbricht. Wir suchen Wärme in der Gaststube und schauen eine Weile in das Feuer des Ofens an der Wand. Als der Regen nachlässt, trauen wir uns wieder vor die Hütte bzw. daneben in den Anbau mit unserem Zimmer. Als ich die Tür öffne, ist die Überraschung groß. Triefend nass stehen die beiden Männer, die am Morgen an uns vorbeigezogen sind halbnackt in unserem Zimmer. „Hallo! Wir übernachten jetzt auch hier,“ klärt mich der scheinbar Jüngere von beiden auf. Ein wenig hyperaktiv redet er weiter auf mich ein. Es stellt sich heraus, dass die beiden aus Belgien kommen und heute eigentlich zum Rifugio Pian de Fontana laufen wollten. „Aber es ging nur hoch, hoch, hoch. Nicht runter und ich sagte, das kann nicht stimmen.“ Regen und Gewitter hätten sie schließlich vollkommen überrascht und zum Umkehren gezwungen. Ein Lächeln kann ich mir nicht verkeifen, immerhin waren seit gestern schon kräftige Unwetter am Nachmittag angekündigt. Nichtsdestotrotz habe sich der Weg gelohnt, meint der Hyperaktive. Er zückt sein Handy und zeigt mir unzählige Fotos von Edelweiß, die den Schotterhang bedecken. Im Raum liegt jetzt ein beißender Geruch und ich hoffe inständig, dass die beiden nicht am Geld für eine Dusche sparen wollen.

Beim Abendessen hellt sich die Stimmung schließlich auf, denn die drei Gänge sind üppig und lecker. Zum Nachtisch werden wir mit einem spektakulären Sonnenuntergang vor der Hütte verwöhnt. Die letzten Gewitterquellwolken glühen in kräftigen Rot- und Orangetönen. Gegen halb zehn verabschieden wir uns ins Bett. Doch bis auch unsere belgischen Zimmergenossen den Weg in ihre Betten finden, sollte noch eine halbe Stunde vergehen. Als sie 22.00 Uhr in der Tür stehen, geht das Licht schon nicht mehr an. Wie auf vielen Alpenhütten üblich wird auch hier ab 22.00 Uhr der Strom abgestellt. Sie tasten und wühlen sich also mit Handylicht durch ihre Rucksäcke.

Das Rifugio Sommariva Pramperet aus der Luft

Während der ältere nach wenigen Minuten all seine Sachen beisammen hat und im Schlafsack liegt, kramt der Hyperaktive noch immer. Plötzlich lachen sein Kompagnon und Sebastian laut auf. Ich habe bis eben Musik gehört und ziehe die Kopfhörer aus den Ohren. „Ich habe meinen Schlafsack auf der letzten Hütte vergessen,“ stellt der Hyperaktive erstaunt fest. „Ach, es geht auch so,“ fügt er lässig hinzu und zerrt die Wolldecke über seine Beine. Beim Gedanken daran, wann Bettlaken, Kissenbezug und Decke wohl das letzte Mal gewaschen wurden, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ein lautes Lachen kann aber auch ich mir nicht verkneifen.

Offenbar fehlt der Schlafsack wirklich nicht, denn nach fünf Minuten sind beide Belgier tief im Traum versunken und holzen darin – für uns trotz Ohropax deutlich hörbar – ganze Wälder ab.