Enzo Traverso: Revolution. An Intellectual History. Verso, London/New York 2021, xvi, 464 S.

Dieser Beitrag erschien zuerst in leicht veränderter Form in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

„Das kritische Verständnis [der Revolution]“, so Enzo Traverso im Vorwort zu seiner intellektuellen Geschichte dieses globalhistorischen Phänomens, „wurde zu oft von naivem Enthusiasmus, einem moralischen Urteil oder der ideologischen Stigmatisierung ersetzt“ (S. xv). In seiner überaus gelungenen Studie arbeitet er heraus, welche historische Bedeutung revolutionären Transformationsprozessen – und das unabhängig von einer Bewertung ihres Erfolges oder Scheiterns – zukommt und warum es sich lohnt, diese auch im 21. Jahrhundert nicht aus dem Blick zu verlieren. In der Einleitung werden zunächst verschiedene Interpretationen von Revolution erörtert und zur Diskussion gestellt. Traverso betrachtet diese dabei als „plötzliche – und fast immer gewaltsame – Unterbrechung des historischen Kontinuums, als Bruch der sozialen und politischen Ordnung“ (S. 9). Darüber hinaus weist er darauf hin, dass Revolutionen, ebenso wie der Nationalismus, der auf erfundenen Traditionen (Eric Hobsbawm und Terence Ranger) und imaginierten Gemeinschaften (Benedict Anderson) basiere, gleichfalls „menschliche Erfindungen sind, die kein unausweichliches Geschehen offenbaren, sondern kollektive Erinnerungen als Marksteine einer sinnvollen Konstellation aufbauen“ (S. 15). Als Kontraktionen und Expansionen geschichtlicher Abläufe – Traverso spricht vom „Ein- und Ausatmen der Geschichte“ (S. 16) – bestimmten revolutionäre Prozesse unsere Vergangenheit in vielerlei Hinsicht, weshalb es wichtig ist, „Revolutionen als Wahrzeichen der Moderne und als wesentliche Momente des historischen Wandels zu rehabilitieren“, selbst wenn das sicherlich „nicht bedeutet, sie zu romantisieren“ (ebenda). Traverso versucht, „die symmetrischen (wenn auch antipodischen) Fallen [zu] vermeiden, in die so viele historische Interpretationen von Revolutionen geraten sind: entweder konservative Stigmatisierung oder blinde Apologie, entweder konterrevolutionärer Exorzismus oder verzweifelte Idealisierung“ (S. 31). Weder ein „postumes Tribunal“ oder „ein Museum“ noch „Instruktionen für einen bewaffneten Aufstand in neo-Blanquistischer Manier“ sind daher die Ziele des Buches. Vielmehr geht es dem Autor um „die ‚Aufarbeitung‘ der Vergangenheit, nur um die Bedeutung einer historischen Erfahrung zu bewahren: Wenn die Revolutionen unserer Zeit ihre eigenen Modelle erfinden müssen, können sie dies nicht auf einer Tabula rasa tun oder ohne [selbst] eine Erinnerung an vergangene Kämpfe zu verkörpern, [d.h.] sowohl ihre Eroberungen als auch häufiger noch ihre Niederlagen. Das ist natürlich eine Trauerarbeit, aber auch ein Training für neue Kämpfe“ (ebenda). Traversos Perspektive auf seinen Untersuchungsgegenstand ist eine insgesamt eher positive, selbst wenn er die revolutionären Verfehlungen oder Misserfolge der Vergangenheit nicht verschweigt und diese durchaus kritisch in seine Überlegungen miteinbezieht.

Im ersten Kapitel widmet sich der Autor zunächst den „Lokomotiven der Geschichte“ und argumentiert, dass die „Revolution ein Ansturm auf den Fortschritt“ sei (S. 46). Mit Blick auf Karl Marx, Walter Benjamin, die Ereignisse von 1848, die Russische Revolution sowie den Aufstieg des Faschismus und dessen Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus diskutiert Traverso im Weiteren die Bedeutung dieser Analogie und kommt zu dem Schluss, dass „[d]ie Revolution keine dröhnende Lokomotive ist, die die Zivilisation vorantreibt; es ist eher eine bewusste Handlung, das tragische Rennen dieses Zuges zu stoppen, bevor er sein Ziel erreicht. Anstatt die Zeit zu beschleunigen und ihre innere Logik zu vollenden, sollte die Revolution diese lineare historische Zeit durchbrechen und eine neue (messianische) Zeit eröffnen“ (S. 77).

Der zweite Abschnitt der Studie befasst sich mit „revolutionären Körpern“, die nach Ansicht des Verfassers den „Sprung in Richtung Zukunft“ (S. 79) vollbringen und diese maßgeblich bestimmen. Er konstatiert: „Als historische Prozesse betrachtet, erscheinen Revolutionen – und werden von ihren Akteurinnen und Akteuren so empfunden – als bedeutsame Momente der körperlichen Befreiung und Regeneration sowie als Prämissen einer neuen Politik, die auf die Pflege und Disziplinierung von Körpern abzielt.“ (S. 85) Diesen Zusammenhang analysiert Traverso in der weiteren Darstellung anhand von Zeugnissen aus der Zeit der Französischen Revolution bis in die 1920er-Jahre, als im Nachgang der Russischen Revolution von sowjetischen Intellektuellen die Diskussion über den „neuen Menschen“ eröffnet wurde. 

Das dritte Kapitel behandelt „Konzepte, Symbole, [und] Reiche der Erinnerung“, die sich im Zuge revolutionärer Transformationsprozesse bilden und über die eigentlichen Ereignisse hinaus eine durchaus bedeutende Strahlkraft entwickeln können. Die „universelle Hinterlassenschaft“ der Revolution sei vor allem „ein Konzept“ (S. 149) und „[a]lle, von ihren Verteidigern bis zu ihren Kritikern, stimmen darin überein, die Revolution als einen sozialen und politischen Bruch zu sehen, auch wenn ihre Einschätzungen radikal voneinander abweichen“ (S. 150). Es gelingt dem Verfasser hier, die Diversität dieser unterschiedlichen Bewertungen sprachgewandt und nachvollziehbar darzulegen.

Der „Figur“ des revolutionären Intellektuellen im Zeitraum von 1848 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs widmet sich Traverso im vierten Kapitel. Für viele dieser, meist kosmopolitischen, Intellektuellen sei „ein revolutionäres Engagement“ gleichbedeutend „mit einer neuen Verbindung zwischen Theorie und Praxis“ gewesen (S. 220). Traverso charakterisiert sie treffend als „Unruhestifter“ (S. 326) und hebt hervor, dass viele von ihnen des Öfteren gezwungen waren, ihren Wirkungsradius zu wechseln bzw. zu erweitern und in anderen nationalen Kontexten zu agieren, zumal ihnen mitunter Chancen des beruflichen Aufstiegs verwehrt geblieben waren oder die Verfolgung durch die Behörden sie zur Verlagerung des persönlichen Lebensmittelpunktes zwang.

Im fünften Abschnitt seiner Studie arbeitet der Verfasser Unterschiede der Atlantischen Revolutionen heraus und reflektiert die Bedeutung von Freiheit und Befreiung im Hinblick auf das, was in den einzelnen Revolutionen dieser ersten modernen revolutionären Welle erreicht wurde, wobei er sich auch mit den Arbeiten von Hannah Arendt (S. 360–366) und Michel Foucault (S. 356–359) kritisch auseinandersetzt. Das abschließende Kapitel rückt den Kommunismus und die Bedeutung der Revolution für dessen historische Entwicklung noch einmal in den Fokus: „Wenn man [dessen] ‚Anatomie‘ skizziert, kann man mindestens vier große Formen unterscheiden, die miteinander verbunden und nicht unbedingt gegensätzlich sind, aber unterschiedlich genug, um für sich allein erkannt zu werden: Kommunismus als Revolution; Kommunismus als Regime; Kommunismus als Antikolonialismus; und schließlich der Kommunismus als Variante der Sozialdemokratie“ (S. 400, Hervorhebung im Original). Die Oktoberrevolution sei die „gemeinsame Matrix“ dieser unterschiedlichen Formen und die Genese des Bolschewismus ebenso revolutionär wie das mit diesem einhergehende Regime gewesen, das die weitere Konstitution und Perzeption des Kommunismus im 20. Jahrhundert vor allem in der „westlichen Welt“ bestimme, während sich etwa in China die drei Ebenen der Revolution, des Regimes und des Antikolonialismus im Maoismus verbänden (S. 420). Dieser sei schließlich „eine revolutionäre Bewegung sui generis, keine chinesische Version des russischen Bolschewismus“ (S. 422), und die Auswirkung der Oktoberrevolution auf antikoloniale Bewegungen des Globalen Südens forderten daher eine besondere Berücksichtigung bei der Auseinandersetzung mit der Rolle und dem Einfluss von Revolutionen und kommunistischen Ideen seit 1917. Ungeachtet der Tatsache, dass „[d]er Zusammenbruch des Kommunismus als Regime auch den Kommunismus als Revolution mit sich [zu Fall] brachte“ (S. 443), bedeute dies allerdings nicht, dass die historische Kraft der revolutionären Veränderung bereits an ihrem Ende sein muss.

Traverso ist mit seiner intellektuellen Geschichte der Revolution ein überaus spannender und lesenswerter Überblick der Moderne gelungen, der das Phänomen Revolution aus unterschiedlichen theoretischen, chronologischen und geografisch globalen Perspektiven ausleuchtet und wichtige Fragen und Zusammenhänge kritisch reflektiert. Seine Studie kann uneingeschränkt empfohlen werden und sollte von allen Historikerinnen und Historikern gelesen werden, die sich mit dem Phänomen der Revolution auseinandersetzen. Ein Erkenntnisgewinn ist garantiert.

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