Positive Psychologie, Teil I

Was ist das?

Seit einiger Zeit findet die Positive Psychologie in vielen Medien zunehmende Beachtung. Dabei wird diese junge Wissenschaft meist nur sehr oberflächlich betrachtet und leider oft mit „Positives Denken“ verwechselt, von welchem Positive Psychologie jedoch streng zu trennen ist.

Positive Psychologie ist „… die wissenschaftliche Erforschung des positiven menschlichen Funktionierens und Aufblühens auf vielen Ebenen, und umfasst biologische, persönliche, beziehungsmäßige, institutionelle und globale Dimensionen des Lebens.“

In der praktischen Anwendung werden diese wissenschaftlichen Erkenntnisse umgesetzt, um persönliches Glück, Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit zu stärken. Interventionen in der Therapie und im Coaching zielen darauf auf ab, Optimismus und Selbstbewusstsein zu fördern, positive Emotionen und Erfahrungen zu erleben, Resilienz zu stärken und Flow zu erfahren. Das Ziel der Positiven Psychologie ist das persönliche Aufblühen („flourishing“) im Sinne von Entwicklung und Realisierung des individuellen, menschlichen Potentials und Gestaltung eines erfülltes Lebens. Kurz gesagt: Es geht um die langfristige Verbesserung der Lebensqualität.

Historisch hat die Frage nach dem Glück Philosophen aller Zeitalter beschäftigt. Insbesondere Aristoteles’ Ausführungen zum Glück („Eudaimonie“) finden starkes Echo in der Positiven Psychologie. Er prägte auch den Begriff „das gute Leben“. Im Osten sind Buddha’s Lehren als Gegenmittel zum Unglücklichsein und somit als Anleitung zum Glücklichsein zu verstehen. Auch diese Lehren finden starkes Echo in der Positiven Psychologie. Erste Ansätze der modernen Positiven Psychologie finden sich in der humanistischen Psychologie, insbesondere Maslow, Rogers, Fromm und Frankl, wobei Maslow als erster den Begriff „Positive Psychologie“ prägte.

Martin Seligmann gilt als Vater der modernen Positiven Psychologie, die er 1998 als neuen wissenschaftlichen Zweig der Psychologie ins Leben rief. Wesentlichen Einfluss hatten auch die Arbeiten von Ed Diener, Mihály Csikszentmihalyi, Carol Ryff, Christopher Peterson und Sonja Lyubomirsky.

In den letzten 20 Jahren hat die Positive Psychologie die Suche nach dem Glück aus der Philosophie und Esoterik herausgeholt und auf soliden naturwissenschaftlichen Fakten aufgebaut. Positive Psychologie als sehr junge Wissenschaft basiert nicht nur auf aufwendigen empirischen Studien, sondern baut auch auf den neuesten Einsichten der Biologie (z.B. Neurowissenschaften und Endokrinologie) auf. Insbesondere den gegenseitigen Einflüssen zwischen Psyche und biologischen Funktionen des Körpers (z.B. Hormonhaushalt, Nervensysteme, Bewegung, Ernährung) wird grosse Beachtung geschenkt. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, wie z.B. Epigenetik, Neuroplastizität und Neurogenese, ermöglichen Wissenschaftern den Prozess des Aufblühens besser zu verstehen und effektive Methoden zur Verbesserung der Lebensqualität zu entwickeln. Der Mensch ist nicht mehr Opfer seiner Gene und Kindheitsentwicklung, sondern er hat es in jeder Lebensphase in der Hand, seine psychische, ebenso wie körperliche, Gesundheit selbst massgeblich zu beeinflussen.

Die Positive Psychologie baut auf den selben wissenschaftlichen Erkenntnissen auf wie die allgemeine Psychologie, insbesondere auf den neuesten Einsichten aus der Psychophysiologie (die gegenseitigen Einflüsse zwischen Körper und Psyche), und teilt auch viele ihrer Interventionen und Methoden. Das Wort „positiv“ ist nicht im Sinne einer Bewertung von gut-schlecht zu verstehen. Die Bezeichnung als „positiv“ dient lediglich zur Erklärung der Zielrichtung, nämlich dem Aufblühen, dem Entfalten des persönlichen Potentials und einer verbesserter Lebensqualität. Es geht um die Entwicklung positiver Emotionen, positiver Eigenschaften, positiver Erlebnisse und einer positiver Gesellschaft. Andere Zweige der Psychologie hingegen beschäftigen sich hauptsächlich mit psychischen Krankheiten, also negativen Entwicklungen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Positive Psychologie nicht Krankheiten ignoriert, sondern über diese hinausgehend die Entwicklung des menschlichen Potentials fördert.

Positive Psychologie hat nichts mit „Positives Denken“ zu tun, das in Persönlichkeits- oder Motivationsseminaren und Büchern verkauft wird. Diesem fehlt jegliche wissenschaftliche Grundlage und die Methoden können sogar zu Realitätsverlust führen. Positive Psychologie hingegen baut auf dem bewussten Auseinandersetzen mit der Realität auf und bietet wissenschaftlich fundierte Methoden um die Lebensqualität real zu verbessern.

Vor allem in den USA und Grossbritannien ist die Positive Psychologie in Wissenschaft und Praxis stark verbreitet. In diesen Ländern bieten die meisten grossen Universitäten Forschung und Ausbildungen in dieser Disziplin an. Auch finden dort die Methoden breite Anwendung in der Psychotherapie und im Coaching, ebenso wie in grossen Unternehmen. Im deutschsprachigen Raum ist die Positive Psychologie, ausser in einigen Selbsthilfebüchern, noch wenig präsent. Derzeit gibt es hier kaum nennenswerte Forschungsprojekte oder fundierte Ausbildungen.

Teil II der Einführung in die Positive Psychologie folgt bald.