An einem Donnerstag im Oktober 1929: Der große Crash beginnt

Wirtschaftskrisen

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sind von uns als Krisen bezeichnete gravierende Störungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts eigentlich immer Agrar- und somit Versorgungskrisen gewesen. Durch klimatische Extreme wie heftige Regenfälle, plötzliche Kälteeinbrüche oder anhaltende Dürreperioden bedingte Ernteausfälle und eine daraus resultierende Verknappung des Nahrungsmittelangebots führten zu Hunger, Not und Elend bei den davon Betroffenen. Der Stellenwert der Landwirtschaft, in der um 1800 um die 62 Prozent und um 1900 immer noch 38 Prozent der Menschen hierzulande beschäftigt waren, war immens. Kein Vergleich zu heute. Fortschritte in der Produktivität vorrangig durch den Einsatz mineralischer Dünger – der Chemiker Justus von Liebig hatte die wachstumsfördernde Wirkung von Stickstoff, Phosphaten und Kalium in den 1840ern nachgewiesen – führten endlich dazu, dass das Thema der seit Urzeiten stets von neuem bedrohlich auf die Menschheit einwirkenden Agrarkrise seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kein existenzielles Schreckensszenario mehr bedeuten musste. Jedenfalls in den gemäßigten Zonen Europas und Nordamerikas. Neuartige logistische Möglichkeiten, die durch Bau und Betrieb von landesweit querenden Eisenbahnlinien in jenen Jahren geschaffen wurden, verminderten die bestehenden Restrisiken, indem bei lokalen Notlagen rasch aus entfernteren Regionen Abhilfe geschaffen werden konnte.

Andererseits begann der im Schlepptau der Industrialisierung – deren Anfänge im Pionierland England in die 1780er Jahre datiert werden – aufblühende Kapitalismus im Falle eines Falles Wirtschaftskrisen zu generieren, die aufgrund zunehmender multilateraler Handelskontakte und Bezogenheit internationaler Finanzzentren aufeinander (Verflechtungen in Echtzeit gab es natürlich noch nicht!) sehr viel leichter und schneller weltweite Ausmaße annehmen konnten. So wie 1857 und 1873 geschehen. Der sogenannte Gründerkrach ist im April/Mai 1873 durch Kursstürze an der Wiener Börse ausgelöst worden. Es heißt, dass selbst gute Papiere innerhalb weniger Tage mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren haben. Wenige Monate später mussten die Bürger*innen New Yorks den Zusammenbruch der renommierten Bank Jay Cook & Company erdulden. Man hatte sich bei Investments in Eisenbahnprojekte verkalkuliert. Eine Pleitewelle in den USA von nicht unbeträchtlichen Ausmaßen schloss sich an, die wiederum über den Atlantik nach Europa zurückschwappte. Im Oktober desselben Jahres war Berlin eines der Hauptziele. An der dortigen Börse, dem seinerzeit turbulentesten Handelsplatz des Kontinents, waren immerhin Aktien von 26 US-Eisenbahngesellschaften gelistet. Die Pleitewelle in der Reichshauptstadt ließ schlussendlich um die 700 neugegründete Aktiengesellschaften zahlungsunfähig zurück. Nachhaltige Tristesse unter den Investoren machte sich unter diesen Umständen breit.

Insofern ist die 1929 beginnende Weltwirtschaftskrise nicht die erste ihrer Art gewesen, wohl aber die bis dahin folgenreichste.

Vergegenwärtigt man sich, dass am Anfang, dem berüchtigten Schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929, eine Spekulationsblase an der New Yorker Börse zu platzen begann, in deren Verlauf selbst Aktienkurse grundsolider Industrieunternehmen gecrasht sind, lohnt auch hier ein Blick zurück in die entferntere Vergangenheit, um das Grundproblem zu erfassen. Fast dreihundert Jahre zuvor, genauer 1637, ist es in den Niederlanden während der kulturellen und künstlerischen Blüte des goldenen Zeitalters ebenso zum Platzen einer Spekulationsblase gekommen. Die Rede ist von der Tulpenmanie. Erst wenige Generationen zuvor ist die ursprünglich in Zentralasien beheimatete und als Königin der Blumen geltende Tulpe von westeuropäischen Händlern importiert worden. Insbesondere eigenwillige und spezielle geflammte Farbgebungen der Blütenblätter entfachten Begeisterungsstürme beim wohlsituierten Bürgertum. Eine im Grunde unscheinbare Tulpenzwiebel mit dem schillernden Namen Admirael van Enchhysen konnte am 7. Februar 1637 einen Verkaufserlös von 5200 Gulden erzielen. Zum Vergleich: Ein respektables, an einer Gracht gelegenes Amsterdam Stadthaus war für 10000 Gulden käuflich zu erwerben. Die bloße Annahme, dass die Preise immer weiter steigen würden, brachte von der Gier nach Reichtum getriebene Spekulanten in nicht wenigen Fällen dazu Kredite aufzunehmen und sich zu verschulden, um hier mitbieten zu können. Die Blase platzte als die ersten Verkaufswilligen, eher vorsichtige Naturen, ausstiegen. Eine Kettenreaktion folgte, der Herdentrieb war unaufhaltsam. Etliche blieben ruiniert zurück. Wer davon persönlich betroffen war, auf den wartete ein hartes Los. Die Historikerin Anne Goldgar, die mehrere Jahre in niederländischen Archiven mit dem Studium von Urkunden und Originaldokumenten verbracht hat, kommt allerdings zu dem traditionelle Auffassungen korrigierenden Ergebnis, dass das Platzen der Spekulationsblase keine allgemeine Wirtschaftskrise zur Folge hatte. Das war nach dem Black Thursday 1929 ganz anders.

1929

Die Hausse nährt die Hausse, so will es eine alte Börsenweisheit. Damit ist gemeint, dass eine dauerhaft gute Stimmung an der Börse immer weitere Anleger*innen zum Einstieg bewegt und die Kurse weiter steigen. Das ist dann gerechtfertigt, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Kennzahlen einzelner Unternehmen das hergeben, wenn aber die gute Stimmung in Euphorie umschlägt und die Realität ausgeblendet wird, wenn vollmundige Vorhersagen von immerwährendem Wohlstand und ewiger Prosperität die Runde machen, dann ist höchste Vorsicht geboten. Die letzte Phase eine solchen Booms vor dem Umschlag in den roten Bereich wird von Finanzfachleuten wenig schmeichelhaft und mit einer gehörigen Portion an Despektierlichkeit gerne als Dienstmädchenhausse bezeichnet.

Am 3. September 1929 ist der 30 maßgebliche Industriewerte zusammenfassende Dow-Jones-Index nach mehreren Jahren mit steigenden Kursen auf 381,17 Punkte geklettert, womit ein Allzeithoch erreicht war.  Einige Schätzungen gehen davon aus, dass fast jeder vierte Haushalt in den USA in Aktien investiert war. Präsident Calvin Coolidge konnte noch in seinem letzten Rechenschaftsbericht vor dem Kongress im Dezember 1928 im Brustton der Überzeugung verkünden: „Kein Kongress der Vereinigten Staaten, der sich je versammelt hat, um die Lage der Nation zu prüfen, hat bessere Verhältnisse vorgefunden als die heutigen. Im Inland herrschen Ruhe und Zufriedenheit. Hinter uns liegt ein Rekordjahr des Wohlstands.“ Einige ökonomische Kennzahlen sind dazu angetan, Coolidges Befund zu bestätigen, sie widersprechen ihm mindestens nicht. So stieg der Federal-Reserve-Index der Industrieproduktion, der 1921 bei nur 67 stand, im Juli 1928 auf 110 und im Juni 1929 sogar auf 126 Punkte. 1929 wurden über eine Million Automobile mehr als nur drei Jahre zuvor produziert. Inzwischen waren 5.358.000 der den Individualismus fördernden Fortbewegungsmittel bereit, den Massenmarkt zu erobern.

Doch was ist dann schiefgelaufen? Warum verzeichnete der Dow-Jones-Index über mehrere Jahre anhaltende Kursverluste – im Sommer 1932 markierten 41 Punkte den Boden der Baisse – und erreichte sein Rekordniveau von mehr als 380 Punkten erst wieder ein Vierteljahrhundert später im Jahr 1954? Ist es tatsächlich zutreffend die mancherorts über zehn Jahre anhaltende Wirtschaftskrise als Resultat einer Serie von historischen Zufällen zu begreifen, wie es der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson getan hat?

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Auswirkungen

Doch bevor hier die Annäherung an die Gründe, Ursachen und Folgen versucht wird, noch ein paar Gedanken zu den Auswirkungen auf die Schicksale von Betroffenen. Einer derjenigen, denen Fortuna übel mitgespielt hat, ist der erfolgreiche Komiker Groucho Marx („Ich mag keinem Club angehören, der mich als Mitglied aufnimmt.“) gewesen. Groucho Marx hat den großen Crash im Herbst 1929 seinen eigenen Worten zufolge so erlebt: „Einige meiner Bekannten verloren Millionen. Ich hatte mehr Glück. Ich verlor nur zweihundertvierzigtausend Dollar. (…) Ich hätte noch mehr verloren, aber das war alles Geld, das ich besaß.“ Laut Inflationsrechner entspricht der Betrag heute mehr als 4,1 Millionen Dollar. Eine steile Karriere in Hollywood mag ihn dafür ansatzweise entschädigt haben.

Wer allerdings in der Absicht, am Aktiengeschäft mitzuverdienen leichtsinnigerweise einen Maklerkredit aufgenommen hatte, der konnte ebenfalls eine böse Überraschung erleben. Die Statistik der Federal Reserve zeigt eindeutig eine starke Zunahme des Volumens dieser Art von Kredit im letzten Drittel der Roaring Twenties an. Ende 1927 waren 4,4 Milliarden Dollar, Ende 1928 6,4 Milliarden Dollar und im Oktober 1929 schließlich 8,5 Milliarden Dollar verliehen, in nicht wenigen Fällen an spekulationswütige Kleinanleger. Als Sicherheit hatten diese die Aktien selbst bei den Banken hinterlegt, hinterlegen müssen. Doch sehr bald waren die Kurse zu sehr gefallen, als dass die Maklerkredite noch gedeckt werden konnten. Die unbarmherzige Devise lautete nun: „Verkaufen um jeden Preis!“ Viele blieben dennoch auf einem Schuldenberg sitzen. Zeitungen haben damals von einer regelrechten Selbstmordwelle berichtet. http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzer_Donnerstag spricht allerdings unter Berufung auf den Ökonomen John Kenneth Galbraith davon, dass es nach dem Crash zu keiner solchen Welle an Suiziden kam. Die Statistik, die ich hingegen bei Galbraith in seinem Standardwerk „Der Große Crash 1929“ aus dem Jahr 1954 gefunden habe (S.168), spricht zumindest für New York City, dem Epizentrum des Geschehens, eine andere Sprache, und zwar in dem Sinn, dass sehr wohl ein kontinuierlicher Anstieg an Selbstmorden zu verzeichnen war. Bezogen auf 100.000 Einwohner gab es 1928 15,7, 1929 17,0, 1930 18,7, 1931 19,7 und 1932, dem Jahr des Tiefpunktes der Baisse, 21,3 Fälle. Das ist eben auch ein Teil der traurigen Wahrheit, die es weder zu beschönigen noch zu verschleiern gilt.

Fortsetzung folgt…

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