«past & post – Fotografie in Archiv & Netz»

Kooperationsprojekt von BelleVue – Ort für Fotografie und Staatsarchiv Basel-Stadt
Initiiert von der Christoph Merian Stiftung

«past & post» ist die erste Ausstellung des Langzeitprojekts «Im Bild – Archivierte und zeitgenössische Fotografie im Dialog». Aufgrund der Pandemie konnte diese 2020 der Öffentlichkeit nur kurz präsentiert werden. Momentan ist die Ausstellung erneut bis 19. Oktober 2022 in der Universitätsbibliothek Basel zu sehen.

Was fangen wir mit diesen Fotografien an? Fragen zur Ausstellung «past & post»

Daniel Hagmann, Staatsarchiv Basel-Stadt

«past»: Im Archiv lagern Millionen historischer Fotografien. Und im Netz? Abermillionen von Bildern, täglich mehr. Sie dokumentieren unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit.

«post»: Wir produzieren und verbreiten laufend künftige Erinnerungsbilder, an die wir uns erinnern werden, dank derer wir uns überhaupt erinnern. Wie verändert das unsere Sicht auf die Welt?

«past & post»: Diesen Fragen geht das Ausstellungsprojekt «past & post – Fotografie in Archiv & Netz» nach. Auf dem Weg von der Idee bis zur fertigen Präsentation haben die Projektbeteiligten viel diskutiert, über historische und zeitgenössische Fotografie, über Erinnerungskulturen und Überlieferungskräfte, über Bilderflut und Lesbarkeit. Die Ausstellung «past & post» ist eine Einladung, auf vielfältige und lustvolle Art zu hinterfragen, wie wir Bilder lesen, nutzen und verbreiten.

Gastgeberin und Ausstellungsort UB Hauptbibliothek, Ausstellungsraum (1. Stock), Copyright Maria Patzschke

Am Anfang war nur eines klar: Das wird ein spannendes Experiment. Im Frühling 2018 sassen die Kooperationspartner BelleVue, Staatsarchiv und Christoph Merian Stiftung zusammen am Tisch und tauschten ihre Wünsche, Gedanken und Überzeugungen aus. Ein Dialog sollte entstehen, zwischen historischer und zeitgenössischer Fotografie, nicht einfach ein Vergleich von «Gestern» und «Heute», sondern ein Gespräch über aktuelle Fragen zu Fotografie und zum Umgang mit Bildern. Ein «strukturiertes Experiment» nannte es Staatsarchivarin Esther Baur im Rückblick. Und in der Tat barg der angedachte Weg zur Ausstellung etliche Überraschungen.

Ungewöhnliche Partnerschaft

Sich um Bilder, um Fotografien kümmern – das ist ein gemeinsames Anliegen aller drei Projektpartner. Aber aus einem doch unterschiedlichen Selbstverständnis heraus. Die Christoph Merian Stiftung «engagiert sich für die Förderung des kulturellen Lebens und des künstlerischen Schaffens, für den Austausch zwischen Kunstschaffenden und der Gesellschaft sowie für die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen». Fotografie ist förderungswürdig als historisches Kulturerbe (im Archiv) wie als zeitgenössisches Kulturschaffen. Der Verein BelleVue seinerseits versteht sich als «etablierte Plattform für zeitgenössische Fotografie», die mit Ausstellungen bekannter FotografInnen wie junger Talente vermittelnd und fördernd wirkt. Das regionale Schaffen soll sichtbar werden, Fotografie soll diskutiert werden. Und das Staatsarchiv? Seine Aufgabe liegt in der Sicherung einer historischen Überlieferung, wozu eben auch visuelle Dokumente zählen. Dabei ist die Überlieferung nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung für eine öffentliche Nutzung.

«Hat Hans Bertolf je damit gerechnet, dass seine Pressefotos in einer Ausstellung neu befragt und gesehen werden?»

Kulturförderung, Vermittlung und Überlieferungssicherung – wie kriegt man das unter einen Hut? Gibt es gemeinsame Interessen? Die Projektmitglieder von BelleVue bezeichnen sich als «bunte Runde». In der Tat stammen die Vereinsmitglieder, alle ehrenamtlich arbeitend, aus verschiedenen Kulturen und Generationen. Sie sind beruflich unterschiedlich geprägt, teils fotopraktisch, teils fototheoretisch interessiert. Entsprechend liegen die Erfahrungen und Meinungen, wie historische Bilder zu lesen sind, auf einer grossen Bandbreite. Zu reden gab zum Beispiel die Aussenaufnahme des alten Lohnhof-Gefängnisses, die Fotograf Hans Bertolf 1960 für die Zeitungsausgabe am nächsten Tag schoss. Was erzählt sie heute? Ist sie ein Dokument gesellschaftlicher Repression, eine Referenz an ästhetisch-formale Bildtraditionen, ein Realbeweis der Stadtentwicklung, eine Einladung zu freier Assoziation oder die Verdichtung persönlicher Erinnerung?

«Verändert die Digitalisierung die Rolle der Archive wirklich? Es gab in der Geschichte schon viele Medienbrüche.»

Für die ProjektpartnerInnen aus dem Staatsarchiv stellen sich wiederum andere Fragen. Warum zum Beispiel dieses Bild überhaupt noch existiert – was sind Kriterien und Mechanismen der Überlieferung? Dass und wie eine Fotografie ins Staatsarchiv übernommen wird, hat vor allem mit Herkunfts- und Kontextsicherung zu tun. Das Foto soll in seinem Entstehungszusammenhang lesbar bleiben, verortbar in Raum und Zeit. Und zugleich offen für spätere Interpretationen. Die aktuelle kulturelle Entwicklung hin zu einer digitalen Informations- und Bilderwelt ändert nichts an dieser Aufgabe. Aber sie stellt neue Herausforderungen für das Archiv dar. Wie kann ein Archiv die Sichtbarkeit eines analogen Fotografie-Bestandes in seiner Gesamtheit ermöglichen, wenn nur noch online verfügbare Beispielbilder wahrgenommen werden? Kann man dieses Gefängnis-Foto verstehen ohne seine Varianten auf dem Negativstreifen, ohne die Zeitungsseite mit dem Artikel und dem abgedruckten Bild, ohne Hintergrundwissen?

Copyright Maria Patzschke
Konfrontation als Idee

Genau diese unterschiedlichen Perspektiven soll «past & post» nachvollziehbar machen, so stand es im Ausstellungskonzept: «Was können uns die Bilder der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts über diese Zeit erzählen? Können sie uns nur von der Vergangenheit berichten oder ist es vielleicht möglich, anhand der Bilder der letzten Generationen die aktuellen und zukünftigen Bilder besser zu verstehen? Inwieweit können solche historischen Bilder als eine Art Alltagsgedächtnis dienen? Welche Rolle spielt der Rahmen, in dem sie entstanden sind? Wie wirkten sie damals und wie lesen wir sie heute? Welche allgemeinen Erkenntnisse ergeben sich daraus für das Archivieren von Fotografien? Um diesen Fragen nachzugehen, soll das historische fotografische Schaffen in Basel und seiner Region in einen Dialog mit der zeitgenössischen Fotografie gebracht werden.» Konkret hiess das: Heutige FotografInnen werden eingeladen, mit ihrem eigenen Schaffen auf die historischen Bilder zu reagieren.

«Wie stark hat sich mit der Erfindung der Fotografie unsere Erinnerungskultur verändert?»

Die Einladung ging an Simon Tanner und Thi My Lien Nguyen. Tanner ist Fotograf für die Neue Zürcher Zeitung NZZ, Dozent an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich und verfolgt eigene künstlerische Projekte zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Nguyen ist freischaffende Fotografin, Videografin und Künstlerin. Beide wurden eingeladen, in der Ausstellung auf das archivierte/historische Fotomaterial von Hans Bertolf zu reagieren, sich an der definitiven Auswahl der Bildgruppen zu beteiligen und dazu eigene visuelle Antworten zu entwickeln.

«Ist Bertolf nicht immer klar der Betrachter und Beobachter von aussen?»

Hans Bertolf war für Fotografin wie Fotograf zunächst mal ein Unbekannter. «Klassische Schwarz-Weiss-Pressefotos», so ein erster Eindruck, «wie man es aus Fotobänden kennt». Beim Stöbern fiel der distanzierte Blick des Fotografen auf, die Distanz zum Sujet: Der Pressefotograf kreuzt für ein Auftragsbild auf, und weiter geht’s zum nächsten Termin. Zugleich war aber auch ersichtlich, dass Bertolf mit einem gewissen Humor an sein Tagesgeschäft ging. Das fiel der Fotografin, die in ihrem eigenen Schaffen Nähe und Intimität zum Thema macht, besonders auf.

Copyright Maria Patzschke
Neue Fragen an alte Bilder

Doch eben: Ein strukturiertes Experiment zu wagen, heisst Veränderungen zu erleben und zu gestalten. Schon bald formulierten Simon Tanner und Thi My Lien Nguyen ganz neue Fragen. Die Bewertung des Bildschaffens von Bertolf wurde für sie weniger entscheidend als die Frage, wie sie diese Bilder weiterverwenden könnten. Ob Fotografie überhaupt (noch) Sachverhalte abbilden könne? Ob man noch als AutorIn/UrheberIn auftreten solle, sozusagen im Sendemodus – müsste nicht eine gleichberechtigte Kommunikation aller Beteiligten (Abgebildete, Fotograf, Betrachter) angestrebt werden?

«Wie mobilisieren wir Vermutungen und Vorverständnisse über ein Bild?»

Aus der Idee einer Konfrontation heraus entwickelte sich so die neue Idee, das Archivmaterial in die zeitgenössische visuelle Kultur einzuordnen, die BesucherInnen aufzufordern, sich aktiv mit dem Gezeigten zu beschäftigen. Die beiden FotografInnen nutzen das Archivmaterial von Hans Bertolf, um Collagen und Memes herzustellen, im Netz und in Bilddatenbanken nach verwandten Bildmustern zu suchen oder um spannende Gegensätze herauszuarbeiten. Sie stellen die Fotografien von Hans Bertolf in neue Kontexte und ermöglichen dadurch neue Aussagen und Lesarten. Stichworte: Dekontextualisierung, Gegenüberstellung und rhizomartige Häufung von Bildern, Anrufung kollektiver Erinnerungsspeicher und alltäglicher Bilderpraxen.

«Was veranlasst jemanden, ein Bild der eigenen Katze im Internet zu veröffentlichen?»

Und so öffnete sich das Gespräch unter den Projektbeteiligten. Zum Beispiel in eine Diskussion über das Verhältnis von privat und öffentlich. All die Katzen-Posts im Internet – schaffen sie eine neue Community, offenere Erinnerungskulturen, als sie eine Zeitung produzierte? Die National-Zeitung illustrierte mit Bertolfs Fotografien das Tagesgeschehen und schuf damit eine ausgewählte Form von Gedächtnis. Dabei ging es immer um Entscheide: beginnend beim Auftrag an den/die FotografIn, über die Aufnahmewinkel bis hin zur Bildbearbeitung und zur Platzierung auf der Zeitungsseite. Was zwar fotografiert, aber nicht gedruckt ist, zeigt ein Blick ins Archiv. Dort sind auch die nicht veröffentlichten Bilder, die nicht veröffentlichten Variationen, die weggeschnittenen Bildbereiche etc. erhalten.

«Wieso löscht Instagram Bilder von Frauennippeln, aber solche von Männernippeln nicht?»

Immer häufiger kamen auf dem Weg zur Ausstellung Fragen der Überlieferungsbildung auf: Wie, von wem und nach welchen Kriterien werden eigentlich Fotografien der Nachwelt überliefert? Was für Vor- und Nachteile bringt die Digitalisierung der Fotografie? Existiert heute etwas überhaupt, wie wird es wahrgenommen und künftig erinnert, wenn es davon kein Online-Bild gibt? Umgekehrt eröffnet das Internet neue Öffentlichkeiten und neue Zugänge zu Öffentlichkeit. So schaffen es auch Minderheiten in unserer westlichen Welt sowie FotografInnen aus Entwicklungsländern, unser Bildgedächtnis zu prägen. Ob man da gleich von Demokratisierung sprechen kann? Die Algorithmen, welche digitale Bilderwelten steuern, werden letztlich von Menschen mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen programmiert. Diese bestimmen, was wie benannt, suchbar/sichtbar wird – und was nicht. Ebenso politisch relevant ist, wie Online-Bilderkennungsprogramme aufgebaut werden. Da bewerten und verschlagworten schlecht bezahlte Menschen Hunderte von Fotos pro Stunde. Und zwar alles andere als vorurteils- und klischeefrei, sondern zum Beispiel ethnozentrisch und zuweilen gar rassistisch gefärbt.

«Was wird aus den Bildern auf meinem Smartphone?»

Der Unterschied zwischen analoger Fotografie, wie sie die Reportagen eines Hans Bertolf verkörpern, und heutiger digitaler Bildproduktion rief unter den Projektbeteiligten ebenfalls Diskussionen hervor. Mit dem Technologiewandel steigt die Menge der potenziellen Bildüberlieferung ins Unermessliche. Was geschieht mit diesen digitalen Fotografien? Sinkt oder steigt künftig das Interesse an einem Rückgriff auf diese Zeitdokumente? Wird unser Alltagsbildgedächtnis reicher oder löst es sich im digitalen Rauschen auf? Und welche Rolle spielen dabei die (Staats)Archive? Sie sind ja nicht einfach willkürlich alimentierte Datenbanken, sondern öffentlich-rechtliche Garanten für die nachvollziehbare, systematische und langfristige Sicherung wichtiger Informationen. Es macht durchaus einen Unterschied, ob Hans Bertolfs Fotografien als Einzelbilder auf ungezählten Online-Plattformen und in unterschiedlichstem Zusammenhang überleben oder ob sie als kontinuierliche, dokumentierte Serie im Archiv aufbewahrt werden.

Copyright Maria Patzschke
Anregung zur Bildkritik

Grundlage der Ausstellung «past & post» bilden die archivierten Zeitungsfotografien von Hans Bertolf. Wie verständlich sind diese Fotografien überhaupt, und was erzählen sie? Das Team von BelleVue machte bei der Durchsicht der rund 12’600 bereits digitalisierten Fotografien (aus einem Gesamtbestand von über 100’000 Negativen und einem Zeitraum von vier Jahrzehnten) eine prägende Erfahrung. Wer in der Region Basel aufgewachsen und über 40 Jahre alt ist, hat gute Chancen, diese Bilder zu verstehen, sprich das Abgebildete einordnen zu können. Aber auch dann bleibt vieles ein Rätsel. Enorm wichtig ist der Kontext eines Bildes: der Bildtitel, den Hans Bertolf notiert hat, und der dazugehörige Artikel in der National-Zeitung.

«Machen wir uns nicht immer ein Bild von etwas?»

Der historisch-dokumentarischen Bildaussage stehen andere Lesarten gegenüber. Zum Beispiel Hans Bertolfs Fotografie eines Eisbären (im Basler Zoo 1970). Ohne Angaben zu Entstehungsdatum und -kontext wird dieses Bild leicht umdeutbar als zeitloses Symbol- oder gar Beweisbild: Klimawandel, bedrohte Umwelt etc. Oft beziehen sich die Fotografien von Hans Bertolf auf lokale Anlässe. Für etliche der Projektmitarbeitenden war das Entdecken dieser Bilder ein Aha-Erlebnis, da sie die abgebildeten Ereignisse erkannten. Andere erkannten darin eher Motive, die Assoziationen hervorrufen, wie ein Foto von einem Spatenstich zum Autobahnbau und dessen visuelle Assoziationen zu Chruschtschow. Was die Frage aufwirft: Wann schiebt sich das innere, bekannte Bild über das vor mir liegende Bild?

«Müssten nicht schon Schulkinder lernen, wie man ein Bild liest?»

Für die Ausstellung wählte das Projektteam von BelleVue rund 70 Pressefotografien von Hans Bertolf aus den Jahren 1945 bis 1976 aus. Diese Fotografien veranschaulichen Aspekte der historischen Pressefotografie sowie das persönliche Bildschaffen von Bertolf. Und sie widerspiegeln in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit das Gespräch unter den Ausstellungsmachenden. Die Auswahl, ihre Präsentation und die Kombination mit digitalen Bildwelten macht sichtbar: Fotografien sind alles andere als eindeutig. Die Ausstellung «past & post» bietet denn auch keine abschliessende Antwort. Im Gegenteil, sie will Fragen ermöglichen, Verständnis fördern, zur Bildkritik anregen. «Was fangen wir mit diesen Bildern an?» Wir üben das Lesen. Wir hinterfragen, wie ein Bild 1960 zustande kam, interpretiert wurde, überliefert wurde. Wir lassen uns ein auf die Begegnung mit dem heutigen Bildrepertoire, mit der zeitgenössischen visuellen Kultur. Wir schaffen einen Raum, atmosphärisch, gedanklich und – mit der Ausstellung – ganz real, um über Bilder nachzudenken.

Der vorliegende Text ist eine Zusammenfassung des Gedankenaustauschs, den die Projektbeteiligten während anderthalb Jahren miteinander pflegten. Solche Fragen stellten sich Regine Flury, Svetlana Marchenko, Richard Spillmann, Alena Wehrli, Lua Leirner und Martin Golombek (alle BelleVue), Esther Baur, Sabine Strebel und Daniel Hagmann (alle Staatsarchiv Basel-Stadt) sowie Simon Tanner und Thi My Lien Nguyen (FotokünstlerInnen). Die Zitate stammen von den Projektbeteiligten.

«past & post – Fotografie in Archiv & Netz»

19. August bis 19. Oktober 2022

UB Hauptbibliothek

Ausstellungsraum (1. Stock)

Schönbeinstrasse 18–20, 4056 Basel

Kooperationspartner

BelleVue – Ort für Fotografie www.bellevue-fotografie.ch

Staatsarchiv Basel-Stadt www.staatsarchiv.bs.ch

Initiiert von der Christoph Merian Stiftung www.cms-basel.ch

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