Bremerhaven 10/2015

  • 17.10.2015
  • OSC Bremerhaven – SG Aumund-Vegesack 0:5
  • Bremenliga (V)
  • Nordsee-Stadion (Att: 27)

Da Hannover 96 am dritten Wochenende des zehnten Monats erst am Sonntag ran musste (auswärts in Köln), überlegten Ole und ich uns einen kleinen Tagesausflug für den Samstag. Leider waren keine großen Kracher in den Spielplänen Norddeutschlands auszumachen. Aber das Nordsee-Stadion in Bremerhaven muss auch irgendwann mal gemacht werden. Warum also nicht heute? Und mal so’n Tag in Bremerhaven, da hatte ich irgendwie mal wieder Lust drauf. Die Stationen des letzten (schulischen) Pflichtbesuchs in Bremerhaven (Auswandererhaus, Schiffahrtsmuseum und Klimahaus) erhielten allerdings keinen Revisit. Der Schwerpunkt lag diesmal auf Alltagsbeobachtungen in Deutschlands einziger Großstadt an der Nordsee (ca. 113.000 Einwohner).

Backsteinarchitektur

Und ja, man sah es dem Stadtbild und der Bevölkerung mitunter schon an, dass wir hier nicht in einer Boomtown der Europäischen Union waren. Die Wohngebiete zwischen Bahnhof und historischer Stadtmitte, die wir zunächst passierten, bestanden aus typischen Mehrfamilienhäusern der Nachkriegsbebauung. Die Einheimischen auf dem Trottoir trugen fast alle Sportkleidung, ohne jedoch sportlich aktiv zu wirken. Erinnerte ein wenig an Ricklingen zwischen Wallensteinstraße und B65.

Die Seute Deern

In Mitte dominieren wiederum die modernen Bauwerke wie das Columbus-Center (ein bisschen besseres Ihme-Zentrum, wo der Handel sogar noch floriert) und das Atlantic Hotel Sail City das Stadtbild. Letzteres ist das herausragendste Bauwerk Bremerhavens (im doppelten Wortsinn) und gab vom Deich an der Wesermündung ein gutes Fotomotiv ab (siehe Titelbild). Genau wie die ausgedehnten Hafenanlagen oder Museumsschiffe wie die Seute Deern (heute als Restaurant genutzt). Ansonsten war die Innenstadt nicht sehr fotogen.

Sail City

Uns zog es am frühen Nachmittag weiter nördlich nach Lehe. Dort gab es teilweise ganz schicke Altbauhäuser aus der Gründerzeit. Aber wirklich schön war es dort auch nicht. Müsste ich dort leben, wäre ich wahrscheinlich schon längst nach New York ausgewandert, so aber kam ich nur bis zur letzten Kneipe vor New York. Und statt Yankees Stadium in der Bronx hieß kurz vor 15 Uhr das nächste Reiseziel Nordsee-Stadion in Bremerhaven-Lehe. Das ethnisch heterogene und sozial homogene Lehe soll zwar mittlerweile krimineller als die Bronx sein, aber davon war tagsüber nichts zu spüren. Aber dass in Lehe nahezu jeder Bürger einen Kampfhund spazieren führte, war vielleicht ein Indikator für ein besonders raues Klima in Bremerhavens Nordens.

Löschenturm

Durch eine verhältnismäßige Nobelgegend (im Falle Bremerhavens also eine Reihenhaussiedlung) ging es schließlich weiter zum Nordsee-Stadion, welches 1975 eröffnet wurde und architektonisch ein typischer Vertreter dieser Zeit ist. Erinnerte mich an das Parkstadion Baunatal, nur heruntergekommener. Es handelt sich um ein Oval, bei dem die hinter den Toren aufgeschütteten Erdwälle mittlerweile mit Gras und Bäumen überwachsen sind. Die Gegengerade besteht aus unüberdachten Steinstufen und kann bis zu 6.000 Menschen fassen. Auf der Haupttribüne, die einzig geöffnet war, sind 4.000 orangefarbene Sitzschalen installiert, deren Überdachung genauso verwittert wie die Sitzschalen ist. Gebaut wurde das für damalige Verhältnisse exzellente Mehrzweckstadion, um dem 1972 aus einer Großfusion etlicher Vereine entstandenen Universalsportverein OSC Bremerhaven (Olympischer Sportclub, passend zum Olympiajahr ’72) eine moderne Wettkampfstätte zu schaffen, in der hochklassige Leichtathletikwettkämpfe und auch Profifußball möglich waren.

Unterseeboot Wilhelm Bauer

1977 stiegen dann auch die Fußballer des traditionsreichen TuS Bremerhaven 93 (von 1948 – 1963 übrigens erstklassig in der Oberliga Nord) in die 2.Bundesliga auf und schlossen sich sogleich dem OSC an (die anderen Abteilungen des TuS 93 waren bereits 1974 zum OSC übergetreten). 1977/78 wurde ergo erstmals (und recht erfolglos) Profifußball in der Seestadt und ihrem Großstadion geboten. Dem postwendenden Abstieg folgte 1979 der direkte Wiederaufstieg, der allerdings 1980 abermals im sofortigen Abstieg mündete. Damit war das Kapitel Profifußball in Bremerhaven bis heute beendet. Trainer bei Bremerhavens erstem Gastspiel in der 2.Bundesliga war übrigens der spätere 96-Coach Egon Coordes. Und beim zweiten Gastspiel war er es sogar zweimal, was das Chaos in jener Saison andeuten dürfte.

Das leicht psychodelische OSC-Wappen

Die Schwierigkeiten des Spitzenfußballs in Bremerhaven waren zum einen der wirtschaftliche Niedergang der gesamten Stadt (kein Geld in den öffentlichen Kassen, keine potenten lokalen Sponsoren) und zum anderen die sportliche Konkurrenz durch Eishockey. Das Nordsee-Stadion war zwar architektonisch gefeiert worden, aber durch seine Weitläufigkeit sehr stimmungsfeindlich. Beim Eishockey steppte dagegen in Bremerhavens Halle angeblich der Bär. Obendrein war der OSC als Groß- und Universalsportverein darauf bedacht den Sport in der Breite zu fördern. Für finanzielle Wagnisse war der Vorstand nicht zu haben. So zahlte man nur sehr bescheidene Gehälter (400 DM Grundgehalt) und konnte seine Leistungsträger nicht lange halten. Der Absturz ab 1980 führte bis in die Bezirksliga und andere Vereine, wie der FC Bremerhaven spielten fortan die erste Geige im äußersten Norden des Bundeslandes Bremen.

Blick auf die Gegengerade

Heute spielt der OSC in der tristen Bremenliga. Eine Oberliga, die den Namen Oberliga eigentlich nicht verdient. Das sportliche Niveau entspricht eher der siebtklassigen Bezirksliga Hannover und ist nicht vergleichbar mit der ebenfalls fünftklassigen Oberliga Niedersachsen. Folglich stellt die Bremenliga auch keinen direkten Aufsteiger in die Regionalliga Nord und semiprofessionelle Vereine wie aktuell der Bremer SV dominieren 90 % der Gegner nach Belieben. Eine gemeinsame Oberliga mit Niedersachsen und darunter die Bremenliga als Landesliga wäre sinnvoller.

Haupttribüne Nordseestadion

Wir waren deshalb auch nur im ersten Moment verwundert, dass sich gerade mal 27 zahlende Zuschauer in das weite Rund verirrten. Da gucken Ole oder mir oft mehr Menschen in der Hildesheimer Kreisklasse zu. Ich hatte im Vorfeld die vage Hoffnung, da könnten aus Traditionsgründen ein paar Kuttenfans Stimmung machen (wie z. B. in Wolfenbüttel oder Delmenhorst), aber Pustekuchen! Nicht mal der Gast hatte ein paar Mecker-Opis dabei. Auf dem parallel stattfindenden Kindergeburtstag im Clubheim war wesentlich mehr Stimmung als bei diesem Fußballspiel.

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Nordseestadion

Die aufgebotene Truppe des OSC Bremerhaven hatte nebenbei gerade mal einen Auswechselspieler und auch das Können der Akteure roch allerhöchstens nach Kreisliga Hildesheim. Der heutige Gast SG Aumund-Vegesack aus Bremen hätte dagegen vielleicht eine Chance auf den Klassenerhalt in der Bezirksliga Hannover. Was die Theatralik anging, waren jedoch beide Mannschaften internationale Klasse. Der junge Schiedsrichter zeigte sich davon aber stets unbeeindruckt. So gab es in der 20.Minute beispielsweise kein Strafstoßgeschenk nach Schwalbe für Aumund-Vegesack, da konnte sich der Stürmer noch so winden. Stattdessen brach der Bann zwei Minuten später durch schlechte Zuordnung in der Abwehr der Hausherren.

Ein klassisches Mehrzweckstadion

Mit einem berechtigten Elfmeter in 27. und einem weiteren Tor in der 29.Minute baute der Gast seinen Vorsprung schnell auf ein komfortables 3:0 aus. Fast schon nachvollziehbar, dass ein OSC-Akteur seinen Trainer mit „Ich hab kein Bock mehr, man!“ anbrüllte. Mit 3:0 aus Gästesicht ging es also in die Pause, wo im Clubheim der Kindergeburtstag weiter zu eskalieren schien. War da etwa Cola im Spiel? Dort erfuhren wir auch, dass der OSC sehr ersatzgeschwächt war. Aufgrund von Hafenarbeit und Krankheitsfällen sei die heutige Truppe nicht mit der vom letzten Spiel vergleichbar, welche Habenhausen 5:0 schlug und damit für die ersten drei Punkte der Saison sorgte.

Pilsbier im Clubheim

Aumund-Vegesack sorgte nun in der 2.Hälfte locker-flockig dafür, dass das OSC-Torverhältnis der letzten zwei Spiele nach Abpfiff 5:5 betrug und feierte den immerhin dritten Saisonsieg ausgiebig. Sie festigten damit einen Mittelfeldplatz in der Liga, während der OSC mit seinen drei Punkten auf dem vorletzten Tabellenplatz verbleibt. Das andere Ergebnis des Tages aus der Bremenliga war übrigens ein 9:0 des Blumenthaler SV gegen den Leher TS (großer Bremerhavener Rivale des OSC und im Tabellenmittelfeld zu finden), womit Blumenthal in 90 Minuten fast so viele Tore schoss wie in den sechs Spielen zuvor (12). Eine reine Witzliga eben.

Song of the Tour: Bremerhavens Rap ist noch rauer als die Nordsee.