Warum Relotius kein raffinierter Fälscher war

Wie konnte es nur jahrelang unentdeckt bleiben, dass der mit Medienpreisen überhäufte Journalist Claas Relotius Geschichten erfindet – diese Frage beschäftigt dieser Tage viele Menschen. Der „Spiegel“ hat nun einen Teil seiner am Freitag erscheinenden Online-Ausgabe frei ins Netz gestellt als Erklärung, die zugleich eine Flucht nach vorne darstellt, da Methoden der Recherche demonstriert werden. Im PDF ist auch davon die Rede, dass Relotius immer dann zu dichten begann, wenn in seinen Texten Musik vorkommt. Dann wird er wohl von 440 Hertz dazu inspiriert worden sein, den geläuterten Gefangenen 440 in Guantanamo zu erfinden; dies als kleiner Beitrag zur Aufarbeitung. Es kommt immer mehr durch, dass Relotius keineswegs so brillant fälschte, wie man zuerst anzunehmen bereit war. Man konnte schon bei kleinen Details stutzig werden, etwa bei seinem Interview mit Traute Lafrenz, die mit 99 Jahren das letzte lebende Mitglied der „Weißen Rose“ ist. Denn vor Relotius sprach Thomas Kittan mit ihr in South Carolina, wo sie zurückgezogen lebt. Da war ihr die AfD zwar vage ein Begriff, doch sie kommentierte deutsche Tagespolitik nicht (und auch nicht amerikanische oder Trump).  Bei Relotius schien sie dann erstaunlich genau informiert, sogar über die Ereignisse von Chemnitz, von denen sie schon wegen der Zeitdifferenz von sechs Stunden nichts wissen hätte können. Außerdem ist es absurd anzunehmen, eine 99jährige, die kein Internet hat, würde alles wie eine twitternde Politikerin verfolgen.

Dass Relotius jetzt aufgeflogen ist, verdankt er seinem Co-Autor bei „Jaegers Grenze„, Juan Moreno. Da der gebürtige Spanier mit seiner Familie in Berlin lebt, Relotius aber am Sitz des „Spiegel“ in Hamburg, sind sie sich praktisch nie begegnet. Daher war Moreno auch nicht von seinem Nimbus gefangen und gegen die sonst typische Überhöhung des Jungstars im Kollegenkreis immun. Bei der Story aus Nordamerika sollte Relotius bei Bürgerwehren an der Grenze recherchieren, während Moreno die Migrantenkarawane auf der mexikanischen Seite begleitete. Es war dann Relotius‘ Aufgabe, alles zu einem gemeinsamen Text zusammenzufügen. Als Moreno dieses Elaborat las, fielen ihm Ungereimtheiten auf: Berge, wo alles flach ist, ein medienscheuer Patrouillenführer, der vor ein paar Jahren im Mittelpunkt der Doku „Cartel Land“ stand, und ein Artikelende zuerst ohne angebliche Schüsse, dann mit. Als er Relotius damit konfrontierte, redete bzw. schrieb er sich geschickt aus de Affäre. Dann aber fand er heraus, dass angeblich geführte Gespräche nie stattgefunden haben, was ihm Personen auch bestätigen, die „zitiert“ wurden. Für Moreno ging es auch um journalistische Integrität, sein Vertrag beim „Spiegel“muss jedes Jahr verlängert werden und er wollte seinen Namen nicht für ein Fake hergeben.  Auf der anderen Seite aber wurde anfangs befürchtet, er sei dem jüngeren Kollegen einfach dessen großen Erfolg neidig.

Juan Moreno 

Es hätte leicht Moreno den Job kosten können, doch schließIich fälschte Relotius sogar Mails und legte ein Facebook-Profil für einen nie getroffenen „Gesprächspartner“ an, um sich selbst zu unterstützen. Auf Morenos Schirm erschien der prominentere Kollege übrigens, als dieser (für „Cicero“) über den angeblichen ersten Steuerberater Kubas schrieb, der stolze 20.000 Dollar im Jahr verdienen soll: „Damals las ich ein paar Texte. Wer sie mit dem heutigen Wissen liest, wird sich fragen: Wie dämlich sind die, dass die das drucken? Da erzählt ein Zwölfjähriger, wie er vor drei Jahren in einem fensterlosen Viehtransporter fuhr. Welche Frage muss man einem Jungen von zwölf Jahren stellen, damit er diese Antwort gibt? Aber das kommt im Nachhinein, wenn man den Fake kennt.“ Im „Spiegel“ beschreibt er das Kräfteverhältnis so: „Was hatten also die Chefs? Auf der einen Seite den nettesten Kollegen des Planeten, dem der deutsche Journalismus zu Füßen liegt und der ziemlich klar beweisen kann, dass er die Leute gesprochen hat. Dass Relotius so weit gehen würde, auch E-Mails zu fälschen, konnte nun wirklich keiner ahnen.

Und auf der anderen Seite: Juan Moreno, einen Typen, der nicht der netteste Kollege des Planeten ist, der sich in der Entstehungsgeschichte zum Text seltsam benommen hatte. Moreno legt zwar zugegebenermaßen große Ungereimtheiten vor, aber Beweise sind es nicht. Hätten meine Chefs anders reagieren müssen? Ja, vermutlich. Hätte ich an ihrer Stelle anders reagiert? Nein, vermutlich nicht. Können wir daraus etwas lernen? Ja, Journalisten sind Menschen. Menschen lügen.“ „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo soll im „Spiegel“ erklären, wie es möglich war, dass Relotius mit Preisen überschüttet wurde; er sitzt selbst in der Jury des Nannen-Preises:  „Vielleicht ist es in dieser Ausnahmesituation erlaubt, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Nach meiner Erinnerung waren in den letzten Jahren mindestens zwei Geschichten von Claas Relotius in der Diskussion für die beste Reportage des Jahres. Aber in der Jury gab es Zweifel an den Geschichten. Nicht in dem Sinne, dass es sich um Fälschungen handeln könnte. Aber diese Geschichten waren von einer Glätte, Perfektion und Detailbesessenheit, dass es einige von uns nicht glauben konnten.“

Damit meint er, dass es einfach zu viel war: „Daran kann man natürlich die Frage knüpfen: Wenn es uns in der Jury so ging – gab es denn nie irgendeinen Zweifel in der Redaktion? Dass die Geschichten ganz erfunden sein könnten, darauf wäre auch ich im Traum nicht gekommen. Aber wenn man die Geschichte eines Menschen rekonstruiert und schreibt, wie er geschnauft hat oder wie schnell sein Atem war oder in welcher Geschwindigkeit er durch irgendeine Straße läuft oder welches Lied er dabei anstimmt oder gar, was er sich in einer bestimmten Situation denkt, dann müsste doch instinktiv Skepsis aufkommen. Es soll nicht schlauer klingen, als wir es waren. Ich sage nur: Beim Nannen Preis ist Relotius nie zum Zuge gekommen.“ Gerne wird darauf verwiesen, dass Relotius eben „Haltungsjournalismus“ betrieb und Reportagen machte, doch das darf nicht ablenken. Denn auch in scheinbar so trockener politischer Berichterstattung finden wir Haltungs- und Reportageelemente im Sinn des Kaisers neuer Kleider. Man muss sich nur genau ansehen, wie Bilder von Akteuren erzeugt werden, die dann als Erklärung für alles herhalten und Widersprüche zudecken sollen. Das ist nichts anderes als „die Geschichte eines Menschen rekonstruiert“, „wie er geschnauft hat oder wie schnell sein Atem war oder in welcher Geschwindigkeit er durch irgendeine Straße läuft oder welches Lied er dabei anstimmt oder gar, was er sich in einer bestimmten Situation denkt“.

Und „dann müsste doch instinktiv Skepsis aufkommen“, was jedoch in der Regel nicht der Fall ist, weil es um Narrative zu Personen und Themen geht. Übrigens stehe ich gerade wegen meiner Haltung dem Mainstream entgegen, der unfassbare Mißstände früher im Verteidigungsressort (zu)deckte, die sich bis heute in der sog. Eurofighter-Affäre auswirken. Da hätte es gereicht, die Berichte all derer zu sammeln, die nie mit Verteidigungsminister Norbert Darabos reden durften und sein Verhalten mit dem anderer Regierungsmitglieder zu vergleichen. Wenn man so will, „wie er geschnauft hat oder wie schnell sein Atem war“ und „wie sie geschnauft haben oder wie schnell ihr Atem war“. Mit „Haltung“ meine ich aber, dass ich Zustände nicht zu-, sondern aufdecken will und nicht, dass ich anderen eine Einstellung aufzwingen will. Giovanni di Lorenzo sagt im „Spiegel“: Ein Kollege aus unserem Ressort Dossier hat heute gesagt, und das ohne jede Häme: Er sei beinahe erleichtert, weil er jetzt eine Erklärung dafür habe, warum wir an solche Geschichten nie herangekommen sind. Relotius habe in jeder Situation den Elfmeter verwandelt, nur gab es – wie wir jetzt wissen – den Elferpunkt nicht.“

Welche „Haltung“?

Übrigens mag sich Relotius zwar bei Kriegsberichten sicher gefühlt haben, aber so leicht kann man diese auch nicht fälschen, wie Di Lorenzo betont:  „Ich habe heute Morgen unseren preisgekrönten Kriegsreporter Wolfgang Bauer angerufen und habe ihn gefragt: Wenn Sie uns bescheißen wollten, hätten wir eine Chance, das zu merken? Seine Antwort war interessant: Natürlich nicht alles. Wenn man in Nigeria, Nordkorea oder dem Irak unterwegs ist, lässt sich vieles nicht rekonstruieren. Aber er hat selber erfahren, dass es Kontrollmechanismen gibt, die auch an Reporter erhebliche Anforderungen stellen.“ Moreno kennt sich gut in der amerikanisch-mexikanischen Grenzregion aus und stolperte auch darüber, dass bei der Bürgerwehr ein „arbeitsloser Ex-Soldat sei, dessen drogenabhängige Tochter seit Monaten eine Entziehungskur mache, in der Reha. Wenn man sich im amerikanischen Gesundheitssystem auskennt, weiß man, dass das eher unwahrscheinlich ist für einen Arbeitslosen“.

Zuerst dachte er, Relotius sei veräppelt worden: „Ich habe damals schon eine Mail geschrieben an die Redaktion, weil ich dachte, Relotius würde angelogen. Ich dachte, der geht den Hillbillys komplett auf den Leim. Dann gab es aber etwas Entscheidendes. Die Geschichte von Relotius endete mit einem Schuss, den die Grenzer abfeuerten. Diesen Schluss bekam ich aber erst im zweiten Textentwurf. Wenn ich dabei bin, wie da jemand potenziell auf Mexikaner ballert, dann erwähne ich das definitiv nicht in meinem zweiten Textentwurf. Das ist wahrscheinlich eher mein Einstieg.“ Was für den „Spiegel“ wie ein Trauerfall in der Familie ist,  bedeutet für Opfer, dass weltweit Fake News über sie anrufbar sind. Denn Relotius erfand nicht nur Personen, er versah auch real existierende Menschen mit falschen Biografien, wie die Bewohner der amerikanischen Kleinstadt Fergus Falls erfahren mussten. Nachdem Michele Anderson und Jake Krohn alles penibel nachrecherchierten und eine vernichtende Richtigstellung veröffentlichten, musste der „Spiegel“ die beiden offenbar untypischen Provinzamerikaner interviewen. Anderson wies den „Spiegel“ gleich nach Erscheinen der „Reportage“ auf Twitter darauf hin, dass alles Fake ist,  doch man reagierte nicht; es heisst jetzt,  dass es bei einer Mail an die Redaktion anders gewesen wäre (ach ja?). Anderson sagt, dass sie „immer noch regionale und alternative Medien“ liest;  „manchmal findet man da die authentischeren Geschichten.“

Und dass auch aus Hamburg manche der Lügen zu entlarven gewesen wären:  „Teilweise hätte ja ein Anruf bei den interviewten Personen genügt. Auch die Geschichte mit dem Kino hätte man einfach recherchieren können, indem man den Kinobetreiber kontaktiert.“ Was der „Spiegel“ nun machen soll?  „Wir würden es schätzen, wenn die Geschichte unserer Stadt korrigiert würde. Und diese falsche Geschichte verschwindet, schon allein aus Rücksicht auf deren Protagonisten. Wenn man bei Google deren Namen eingibt, stößt man bis heute auf all diese Lügen.“ Über Fergus Falls hinaus muss man fordern, dass nicht in genau dem „Geschichten“-Stil reagiert wird, der mit Fake Stories verbunden ist, sondern so knochentrocken wie wenn eine Bank melden muss, dass sie in Schwierigkeiten ist. Nett, dass der „Spiegel“ sehr viele Fragen an sich selbst hat, aber zugleich passen seine Artikel in eine Matrix, die der Propaganda dient, sodass ein Fake keine Ausnahme ist. Manche Journalistinnen fragen sich, ob eine Frau auch als Hochstapler durchgekommen wäre, doch es gibt auch einen weißer Mann-Bonus gegenüber Reportern z.B. in Afghanistan, die im etablierten Journalismus als schlecht bezahlte Hilfskräfte verwendet werden. Sie sollen vor Ort ihren Hals riskieren, um bestenfalls als Co-Autor genannt zu werden, während der Reakteur im sicheren Europa oder Amerika nichts aufs Spiel setzt und gut verdient. Darauf weist der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz auf Twitter hin, der sich u.a. mit dem Drohnenkrieg befasst.

PS: Satire „Das ist der wahre Relotius“ und Ernst „Der Fall Relotius: Wenn der Spiegel Fake News eingestehen muss„.

PPS: Ein paar Artikel und Kommentare: Washington Examiner: „Journalist who mocked Trump supporters in fabricated story admits: ‘I’m sick’“ und neu vom „Spiegel„: Gegen den ehemaligen SPIEGEL-Reporter Claas Relotius gibt es neue Vorwürfe. Er hat offenbar Leser ermuntert, Geld für Protagonisten seiner Texte zu spenden. Das Geld sei auf seinem Privatkonto gelandet.“ Die „Zeit“ schreibt: „‚Spiegel‘ hätte Relotius wohl schon 2017 stoppen können“. Analyse in der „Welt“: „Wer das Weltbild bestätigte, stand bald auf der Bühne“. Eine Nebenwirkung: „USA werfen ‚Spiegel‘ Antiamerikanismus vor“.

Kritisches bei „Tichys Einblick“: „Kujau Relotius: Die Fälschungen gehen viel weiter als vom SPIEGEL zugegeben“. Ein Rundumschlag bei der „Achse des Guten“: „Claas Relotius oder: Der Spiegel lässt die Hosen runter“. Hier ein Videokommentar bei „Russia Today“ und da eine Diskussion derer, die ihn druckten. „Sie wollten es bis zum Schluss nicht glauben“ is der Titel einer Story, die auf Aussagen des Münchener Fotografen Mirco Taliercio basiert, der seinem Freund Juan Moreno half, den Betrug aufzudecken. Er meint mit „bis zum Schluss“ etwa seine Videos von Männern, die Relotius nie traf, aber zitierte. Die Science Files stellen fest: „Ideologische Lügen sind beim Spiegel an der Tagesordnung, nicht die Ausnahme“.

Ausserdem: „Wie uns ‚Haltung‘ aufgezwungen wird“ und „Das ist der wahre Relotius“ (Satire) und „Der Fall Relotius: Wenn der Spiegel Fake News eingestehen muss“ und „Relotius und die Recherche„.

5 Kommentare zu „Warum Relotius kein raffinierter Fälscher war

  1. Mit Santa Claas, dem Kürzel für Nikolaus mit seinen Geschenken, ist die perfekte Nebelkerze gezündet worden. Nach der durch Jean, was ja Gott ist gnädig bedeutet, angestoßenen Selbstreiniigung, wird jedes Schaf glauben, dass nun alles wieder den wahrheitsgemäßen Gang geht. Munter können nun weitais schlimmere Dinge erfunden werden und niemand wird es bemerken.

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  2. 🎅 Claas Relotius ist mMn sowieso bloß die Spitze eines riesigen Eisbergs an Lügengeschichten der letzten ca 75 Jahre. Soll ich mich deshalb über das, was sowieso allen hätte klar sein müssen, künstlich echauffieren ? Nein ! Ganz im Gegenteil:

    Ich nehme mir die Freiheit, tue mir selbst was Gutes und verabschiede mich bis einschließlich 07. Jänner 2019 in die wohlverdienten, alljährlich von mir sehr geschätzten, Weihnachtsferien. So schaut’s aus 😉

    Wünsche daher Ihnen, liebe Frau Bader, und natürlich auch allen an Ihrem Blog Lesenden und /oder Kommentierenden ein

    „🔔 Merry Christmas 🎄“

    und ein

    „🎆 🍾 Happy New Year 2019 🎊“

    ——-

    Wie auch immer

    MfG ❄️ 🍷 ❄️ 🍷 ❄️

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  3. Ulrich Fichtner machte sich zu leicht, wenn er meint er könne sich damit herausreden, die Geschichten seien so perfekt geschrieben gewesen. Genau deshalb hätten die Warnlampen angehen müssen.

    Mathias Bröckers weist in „Wenn das Narrativ stimmt, sind Fakten zweitrangig“

    https://www.heise.de/tp/features/Wenn-das-Narrativ-stimmt-sind-Fakten-zweitrangig-4258586.html

    nach, dass des Spiegels Sündenfall viel weiter zurückliegt als der sogenannte Fall Relotius. Es begann 2012 mit einer sogenannten Reportage zu 9/11. Aus Rudolf Augsteins „sagen, was ist“ wurde ein „Ausmalen, wie sich’s anfühlt“.

    Liegt der Journalismus nun am Boden? Nein, es gibt ja auch einen Moreno (sogar beim Spiegel, wenn auch nur mit Jahresvertrag).

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