Märchenbuch für starke Mädchen

Gibt es Statistiken dazu, wie viele Mädchen als Neunjährige davon träumen, Forscherinnen zu werden? Abenteuer zu erleben? Erfolgreich zu sein? Wie viele es für selbstverständlich halten, dass ihre Mama nach Kenia beordert wird, um eine Wasserpumpe zu reparieren, die sie dort vor Jahren installiert hat? Wie viele dieser Mamas das Glück haben, das mit dem Papa (und zwei ihrer Kinder) gemeinsam tun zu dürfen?

Lena, die Heldin des Kinderbuches „Burginternat Rosenstein – Lena und die Bande der Ritterinnen“ von Anette Huesmann, weiß nichts von der Unwahrscheinlichkeit ihrer Situation, auch wenn sie zunächst traurig ist, dass sie als einziges Kind nicht mit nach Kenia darf, weil ihre Schule sich nicht flexibel genug dafür zeigt (offiziell: weil ihre Noten zu schlecht sind). Sorgfältig haben ihre Eltern aber ein Internat ausgewählt, das den Vorlieben der jüngsten Tochter entsprechend auf einer alten Burg liegt. Denn Lena will eine Ritterinnenrüstung finden. Und das hilft dem Kind über den Trennungsschmerz hinweg.

Von Lernen ist auf der Burg freilich keine Rede (vermutlich hätte sie in Kenia mit ihren Ingenieurs-Eltern mehr gelernt), denn der elektrische Strom ist ausgefallen, weil die Leitungen marode waren und samt und sonders ausgetauscht werden müssen. Die meisten Kinder sind nach Hause geschickt worden, und nur diejenigen, die im Moment nicht nach Hause können, bleiben wie Lena im Internat.

Zwei der Mädchen werden als unsympathisch dargestellt, passen sozial wohl nicht ins gewünschte Schema. Das eine ist ein Diplomatenkind, das andere die Tochter des Hausmeisterehepaars. Beide Mädchen legen Wert auf eine Individualität, die im Internat nicht gefragt ist – hier gilt es, sich ein- und unterzuordnen. Besondere Bedürfnisse darf allenfalls eine Rollstuhlfahrerin haben. Trotzdem, und da zeigt Anette Huesmann die Realitäten, darf die Diplomatentochter Sonderrechte in Anspruch nehmen, weil ihre Eltern ein Doppelzimmer zur Einzelnutzung (doppelt) bezahlen. Das Hausmeisterskind dagegen darf nicht zu seinen Eltern gehen, auch nicht, wenn es die Situation nahelegen würde.

Eher unrealistisch-positiv wird die Situation der Rollstuhlfahrerin geschildert, auf deren Bedürfnisse in jeder Hinsicht eingegangen wird, bis hin zu einem eingebauten mechanischen Treppenlift, der auch ohne elektrischen Strom funktioniert. Die Handlung an sich ist spannend und kindgerecht, mit gespenstischen Zutaten gewürzt und gut verständlich in Ich-Form aus Sicht von Lena geschrieben. Rosa Zauberstäbe und ähnlich „mädchenhafter“ Blödsinn kommen zum Glück nicht vor. Ein Märchenbuch ist die Geschichte trotzdem, zumindest für Lesende im westdeutschen Bereich. Zur Begründung verweise ich auf den Treppenlift und den ersten Absatz. Trotzdem: ein lesenswertes Buch, nicht nur für Neunjährige. Und ein Buch, das nach einer Fortsetzung verlangt.

Seine Daten: Anette Huesmann, Burginternat Rosenstein. Lena und die Bande der Ritterinnen, mit Illustrationen von Nadine Reitz, Burg Edition Schriesheim 2016, 128 Seiten, ISBN-10: 1530329132, ISBN-13: 978-1530329137.

Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 19. September 2016, in Allgemein, Märchen, Realismus, Rezensionen. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. Hinterlasse einen Kommentar.

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