Stillleben


Sommerstillleben © Sandra Grüning
Sommerstillleben © Sandra Grüning

Still und verlassen liegt die Straße vor meinem Haus an diesem Abend. Das „Schloß am Meer“ mit seinem Türmchen badet seine weiße Haut in der untergehenden Sonne. Golden streichelt sie mit ihren langen Strahlenfingern die altehrwürdige Villa. Gibt ihr einen sommersonnengelben Anstrich. Auf dem Balkon gegenüber sitzt eine Frau und liest. Regungslos. In sich gekehrt. Hopperesk einsam. Irgendwie. Herausgenommen aus der Zeit. Dem Außen entfremdet. Heldin ihrer eigenen, inneren Welt.

Es hätte den alten Voyeur Hopper gewiss zum Malen verführt. Wie mich zum Schreiben. Existentiell – das eine wie das andere.

Das Bild der Frau flirrt in der warmen Abendluft. Ich atme die Stille, die von ihr ausgeht. Sie sieht mich nicht. Ist den papiernen Worten verfallen, die aus ihrem Buch heraus purzeln. Immer wieder hält sie inne, das Gelesene sich auszumalen. Ich sehe ihre Gedanken an der Hauswand hinaufklettern, sich über den First schwingen, um von einer Möwe in den Abendhimmel entführt zu werden.

Während meine Gedanken Geschichten spinnen, die Seifenblasen gleich den geflügelten Worten in eben jenen Abendhimmel fogen:

46 Quadratmeter Berliner Plattenbauglückseligkeit. Graffiti-Kunst ziert jeden Hausflur. Der immer gleiche 9-to-5-Job. Abends der Ausblick auf hunderte identische Einheitsbalkone. Murmeltiertage. Murmeltiernächte. Murmeltierleben.

Doch einmal im Jahr ist alles anders. Das Lärmen der Stadt eingetauscht gegen das Rauschen der Wellen. Sonnengeflutet ertrinkt die Seele in Träumen. Der Blick – nicht von dieser Welt – schaut den Märchenprinzen, der sie mit starken Armen in ein schönes, buntes, aufregendes Leben trägt. Und sei es nur für diesen winzigen Moment, der hier am Meer vollkommen scheint.

Aus irgendeinem Fenster schwebt leise eine rauchig zarte Jazzmelodie über die Straße, bringt die Gedanken zum Tanzen. Und die Füße zum Mitwippen. Die Ostsee gibt leise ihren Rhythmus dazu. Ich schließe die Augen, rieche den warmen Asphalt, den leichten Tabakhauch, der von ihrer Zigarette zu mir herüber weht.

Sommerabend am Meer.

2 Antworten auf „Stillleben

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