Anaïs Nin über Kommunikation und Prokrastination

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In einem Tagebucheintrag vom Mai 1946 denkt Anaïs Nin darüber nach, was im Leben wichtig ist – und was davon ablenkt. Sie schreibt (die deutsche Übersetzung habe ich am 16. Oktober 2013 angepasst):

The secret of a full life is to live and relate to others as if they might not be there tomorrow, as if you might not be there tomorrow. It eliminates the vice of procrastination, the sin of postponement, failed communications, failed communions. This thought has made me more and more attentive to all encounters, meetings, introductions, which might contain the seed of depth that might be carelessly overlooked. This feeling has become a rarity, and rarer every day now that we have reached a hastier and more superficial rhythm, now that we believe we are in touch with a greater amount of people, more people, more countries. This is the illusion which might cheat us of being in touch deeply with the one breathing next to us. The dangerous time when mechanical voices, radios, telephones, take the place of human intimacies, and the concept of being in touch with millions brings a greater and greater poverty in intimacy and human vision.

[Übersetzung Manfred Ohl und Hans Sartorius, Fischer Taschenbuch (1971)] Das Geheimnis eines erfüllten Lebens liegt darin, zu leben und mit anderen so zu leben, als seien sie morgen nicht mehr da, als sei man selbst morgen nicht mehr da. Dann gibt es nicht mehr das Laster, Dinge aufzuschieben, die Sünde, etwas zu verzögern, das verpaßte Gespräch, die fehlende Gemeinschaft. Diese Erkenntnis machte mich gegenüber allen Menschen aufgeschlossener; gegenüber allen Begegnungen, die den Keim von Intensität enthalten, der oft leichtfertig übersehen wird. Dieses Gefühl stellt sich immer seltener ein und wird durch unseren gehetzten und oberflächlichen Lebensrhythmus mit jedem Tag seltener, in einer Zeit, in der wir glauben, mit viel mehr Menschen in Verbindung zu sein, mit mehr Völkern, mit mehr Ländern. Diese Illusion kann uns daran hindern, mit dem Menschen, der uns wirklich nahe ist, eine aufrichtige Beziehung einzugehen. Die bedrohliche Zeit, in der mechanische Stimmen, Radio und Telefon, an die Stelle menschlicher Beziehungen treten, und die Absicht, mit Millionen in Verbindung zu sein, schafft eine zunehmende Verarmung von Vertrautheit und Menschlichkeit.

Der Pessimismus von Nïn ist äußerst modern, weil er nostalgisch ist. Eike Kühl schrieb letztes Jahr treffend:

Offline, das steht in den Köpfen vieler für ausgedehnte Waldspaziergänge, tiefe Gespräche und gesteigerte Produktivität. Offline, das bedeutet immer auch “damals”: Damals, als wir noch nicht ständig auf E-Mails antworten mussten. Damals, als wir uns nicht ständig ablenken ließen.

»The real wonders of life lie in the depth«, schriebt Nïn in demselben Tagebuchband. Wir sehnen uns nach einem Leben unter der Oberfläche, hinter der Fassade. Zurecht. Die besten Phasen in unserem Leben sind die, wo wir keine Zeit mit Small-Talk verlieren, wo wir tiefgründige Beziehungen eingehen, in denen Vertrauen entsteht, wir gehört werden – ganz ähnlich, wie es Jorge Bucay in seinem Gedicht formuliert:

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Nïn schreibt nun, uns hinderten »Sünden« daran, dieses Ideal zu erreichen, zu denen auch das Bestreben gehört, mehr Verbindungen aufrecht zu erhalten, weil uns das die Technologie ermöglicht – sie nennt mechanische Stimmen, Telefon und Radio.

Ergründet man ihren Gedankengang, so mag die Technologieschelte und der Kulturpessimismus, der immer auch eine Kritik an den Menschen ist, die Technologie nutzen, auch nur eine Oberfläche sein: Letztlich geht es um eine menschliche Eigenschaft, Tiefe anzustreben, aber davor auch zurückzuschrecken. Die Bedeutung von Konzentration und Intimität zu kennen, sich aber gleichzeitig davon abzulenken. Zum Mensch gehört das Tiefe und das Oberflächliche, das Virtuelle und das Physische, das Digitale und das Analoge.

Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche. – Hugo von Hofmannsthal

2 Kommentare

  1. Anonymous sagt:

    hippie

  2. sarahgenner sagt:

    Danke, Philippe. Das sind zwei wunderbare Fundstücke (Nin und Bucay)! Immer wieder tröstlich zu sehen, wie man sich schon vor der Digitalisierung dieselben Sorgen gemacht hat. Wo wir doch immer wieder glauben, wir seien die erste Generation, die sich über Kommunikation und Beziehungen Gedanken macht. Muss an den eben gesehenen Film „Disconnect“ denken, der ebenfalls zu unterstellen scheint, als trage das Smartphone des Papas, der abgelenkt durch Technologie mit der Familie nicht richtig kommuniziert, eine Hauptschuld am Suizidversuch des Sohnes.

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