Rot

Publiziert am 23. Juli 2022 von Matthias Zehnder

Europa sieht rot: Zum ersten Mal seit Messbeginn und Menschengedenken haben diese Woche die Temperaturen in Grossbritannien die 40-Grad-Grenze überstiegen. So heiss ist es den Engländern noch nie geworden. Im Westen von Frankreich stieg die Temperatur noch zwei Grad höher. Seither brennen die Wälder in der Gironde. Der Rauch sei bis in die Charente zu sehen. 

In der Schweiz wurde es nicht ganz so heiss: Genf hat am Dienstag 38,1 Grad gemessen, in Basel wurde es 36,5 Grad. Die offizielle Messstation von Basel liegt in der Sternwarte Binningen. In der Stadt über dem Asphalt und in den steinernen Häuserschluchten war es um einiges wärmer. Und in der Nacht hat es kaum mehr abgekühlt. Gleich mehrere Orte in der Schweiz meldeten diese Woche die wärmste Nacht seit Beginn der Aufzeichnungen, so zum Beispiel Genf mit 23.4 Grad und Chur mit 23.1.

Für die Hitze steht die Farbe Rot. Rot wie Gefahr. Wie Lebensgefahr. Diese Woche war Europa auf den Temperaturkarten dunkelrot eingefärbt. 

Rot wie die Glut, wie das Feuer und wie Blut. Rot ist die Farbe der Menschen: Die meisten Säugetiere haben Schwierigkeiten, Rot zu sehen. So sehen zum Beispiel Katzen zwar Blau- und Gelbtöne und deshalb auch Grün, aber kein Rot. Dafür können sie mehr Grautöne unterscheiden als wir Menschen. Was für Katzen sicher wichtig ist, denn nachts sind bekanntlich alle Katzen grau. Bei Hunden ist es ähnlich: Sie sehen Farben im Blau-Violett- und im Gelb-Grün-Bereich. Rot können sie nicht wahrnehmen. Sie sehen also etwa so, wie ein rot-grün-blinder Mensch.

Menschenaugen reagieren dagegen sehr empfindlich auf Rot. Deshalb steht Rot für Gefahr. 

Doch eigentlich steht Rot für Leben. Vor etwa 1,5 Millionen Jahren schafften es unsere Vorfahren, das Feuer zu zähmen. Sie konnten sich künftig wärmen – und sie lernten kochen. Gekochte Mahlzeiten schufen die Bedingungen, dass unser Gehirn wachsen konnte. Kein Zweifel: Feuer stand für Leben. Wie das Blut. Mit Blut und rötlichem Ocker malten und zeichneten die Menschen erste Bilder an die Wände ihrer Höhlen. Rot steht deshalb nicht nur für das Leben durch Feuer, sondern auch für die Kunst – und damit für die Menschwerdung.

Und natürlich steht Rot für Leidenschaft und Liebe. Wir werden rot, wenn uns etwas berührt – und manchmal sehen wir auch rot. Das können nur wir Menschen. Rot macht uns aus.

Daran denke ich, wenn ich Europakarten sehe, die in tiefes Rot getaucht sind. Es ist das Zeichen dafür, dass das Anthropozän begonnen hat, das neue geologische Zeitalter, in dem die Menschheit das Erdsystem prägt. Im Guten, wie im Schlechten.

Mit diesen Zeilen über Rot als Farbe der Menschen grüsse ich Sie aus meinen Sommerferien herzlich.  

23. Juli 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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