Pilgern ins Mandala des Yoga

Er thront in der tibetischen Hochebene und gilt für Hindus und Buddhisten als das Zentrum des Universums. Ihn zu umrunden ist der Traum vieler Yogis. Was macht den Mount Kailash so besonders?

Das Jahr 2012 geht in die zweite Hälfte, doch das Paradies, das sich die Esoteriker erträumt haben, bleibt aus. Wir müssen immer noch mit Geld für den Bus bezahlen, und oft sogar arbeiten, um es zu verdienen. Es scheint, dass wir nicht darum herumkommen, uns mit den Anforderungen der materiellen Welt auseinanderzusetzen.

Der Legende nach hat der gutmütige Gott Shiva dafür aber ein Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Zu Beginn des „dunklen Zeitalters“ – des Kali Yuga, in dem wir heute leben – hatte seine Gattin Parvati ihn gefragt, was die Menschen der Moderne tun können, um in Zeiten von physischen und emotionalen Herausforderungen zu bestehen. „In einer grobstofflichen Welt beginnt man seine Praxis mit dem Körper“, antwortete Shiva. Und er begann am Berg Kailash, ihrem gemeinsamen Wohnsitz, Asanas zu üben. Vom benachbarten See Manasarovar aus schaute ein Fisch zu, der sich die 8.400.000 verschiedenen Variationen der Haltungen genau einprägte. Daraufhin wurde er von Parvati in Matsyendranath, den ersten Lehrer für Hatha Yoga, verwandelt.

Hatha Yoga – Das Yoga der Anstregung
Im Sanskrit-Wörterbuch wird Hatha Yoga als „Yoga der Bemühung“ übersetzt. Es geht um „die Kraft, die notwendig ist, sein eigentliches Ziel zu erreichen“, so sagen die Schriften. Nun, was ist das „eigentliche“ Ziel? Wer sich auf die Reise zu Shivas Wohnsitz macht, muss bereit sein, einiges an körperlicher Anstrengung auf sich zu nehmen. Ob man zu Fuß durch West-Nepal nach Tibet wandert, oder mit dem Jeep von Kathmandu oder Lhasa aufbricht; es dauert immer einige Tage, bis man das „kostbare Juwel des Schnees“ (so der tibetische Name) erreicht. Man könnte seinen Urlaub leichter am Strand verbringen oder in heimischen Wäldern wandern. Was macht gerade den Kailash so anziehend für Yogis?

Das natürliche Mandala

„Es gibt Berge, die nur Berge sind, und solche, die eine ausgeprägte Persönlichkeit besitzen“, schreibt Lama Govinda in seinem Reisebericht „Der Weg der weißen Wolken“. Das Charisma des Kailash ergibt sich nicht nur aus seiner eindrucksvollen Pyramidenform, mit der er fast alleinstehend auf einer Ebene im Transhimalaya thront, sondern auch aus der Natur, die ihn umgibt. Aus seiner Mitte entspringen in alle vier Himmelsrichtungen die vier großen Flüsse des indischen Subkontinents (Indus, Brahmaputra, Satluj und der später in den Ganges mündende Karnali). Er bildet dadurch ein natürliches Mandala und ruht als Achse in dessen Mitte.

„Ha“ und „Tha“: Sonne und Mond

Wenn man nach Tagen des Wanderns oder der nicht immer bequemen Fahrt über die Pisten des tibetischen Hochlandes endlich den Gurla-Pass im äußersten Westen Tibets erreicht, lässt einen der majestätische Anblick des Berges, der hier auch wie ein großer Shivalingam aussieht, umgehend still werden. Für einen Moment gibt es keine Wellen im Geist, außer tiefer Freude und der Dankbarkeit, dieses Wunder der Natur mit eigenen Augen sehen zu können. Dann fällt der Blick auf die beiden großen Seen am südlichen Fuß des Berges, und die nächste Analogie zum Hatha Yoga wird klar: Die beiden Silben „Ha“ und „Tha“ bedeuten laut B. K. S. Iyengar auch Sonne und Mond. Sie repräsentieren die Gegensatzpaare weiblicher und männlicher Energie, kühlender Entspannung und erhitzender Aktivität (siehe Kasten).

Die phantastische Reise
Bei einer Reise zum Kailash bewegt man sich also – wie im Film „Die phantastische Reise“ – wie ein mikroskopisch kleines Wesen in der Natur seines eigenen Körpers. Denn die beiden Seen Manasarovar und Rakshastal entsprechen im Mandala des Kailash Ida und Pingala. Bei oberflächlicher Betrachtung hat der erste die Form einer Sonne, der zweite die Form einer Mondsichel. Der Manasarovar wird als „See der Götter“ bezeichnet. Um ihn herum blühen mittlerweile wieder viele der alten Klöster auf, und es wimmelt von Brahmanengänsen, Kranichen, Möwen und etwa zwanzig anderen Vogelarten. Der Rakshastal hingegen ist still und verlassen. Von den Tibetern wird er „See der Dämonen“ genannt. Dort ist kein Laut zu hören. In unserer Seele wirken auch immer beide Seiten; die Kräfte des Lichtes und die Kräfte der Nacht. Manch eine Reiseteilnehmerin hat sich schon bei mir beschwert, dass die Frauen schlecht dabei wegkommen, weil sie in dieser Philosophie mit dem Dunklen, Tiefgründigen, gar Dämonischen assoziiert werden. Aber möglicherweise gibt es auch keine Erleuchtung, ohne die Kräfte des Unterbewussten zu achten. Wenn wir uns auf die Reise gemacht haben, den Kailash kennen zu lernen, dann laufen wir tatsächlich um das „Zentrum des Universums“ – denn wir bewegen uns bildlich um unsere eigene Wirbelsäule, unser eigenes Inneres.

Von Ralf Sturm

Lesen Sie den Rest dieses Artikels in der September/ Oktober 2012-Ausgabe des YOGA JOURNALs.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Das Neueste

#101 Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt im Yoga – mit Kristin Rübesamen, Carmen Schnitzer und Susanne Mors

Eine kritische Betrachtung der Rolle von Hierarchien im Yoga Immer wieder erschüttern Missbrauchsskandale um große spirituelle Führer die Yogawelt. Aber...

Gönn dir Magie! Bewusster Urlaub im Naturhäuschen

Ich möchte dir eine absolute Herzensempfehlung aussprechen: Naturhäuschen, ein Anbieter für unglaublich idyllische und nachhaltige Ferienhäuser, die immer mitten...

100 Folgen YogaWorld Podcast! Die 10 meistgehörten Episoden

Im Juni 2022 ging unser "YogaWorld Podcast" zum ersten Mal auf Sendung und jetzt dürfen wir tatsächlich schon auf...

Dr. Ronald Steiner: Alignment Cues für Virabhadrasana A

In der "Haltung des mächtigen Helden" reckt sich der oder die Übende kraftvoll gen Himmel. Dafür ist es wichtig,...

Vollmondkalender 2024: Der April-Vollmond im Skorpion und dein Körper

Wann ist der nächste Vollmond? Unsere Experten Johanna Paungger-Poppe & Thomas Poppe begleiten dich mit unserem Vollmondkalender durchs Jahr...

YogaWorld Podcast: #100 Yoga neu denken – mit Robert Ehrenbrand

Willkommen beim "YogaWorld Podcast"! Die Idee dahinter: Zugang zu echtem Yogawissen, ohne stundenlangem Bücherwälzen. Hier erfährst du einfach alles...

Pflichtlektüre

#101 Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt im Yoga – mit Kristin Rübesamen, Carmen Schnitzer und Susanne Mors

Eine kritische Betrachtung der Rolle von Hierarchien im Yoga Immer wieder erschüttern Missbrauchsskandale um große spirituelle Führer die Yogawelt. Aber...

100 Folgen YogaWorld Podcast! Die 10 meistgehörten Episoden

Im Juni 2022 ging unser "YogaWorld Podcast" zum ersten Mal auf Sendung und jetzt dürfen wir tatsächlich schon auf...

Das könnte dir auch gefallen
Unsere Tipps