Home

Schwellenängste

15/07/2005

Eigentlich wollte ich mir nur meinen Wecker holen

„Mein Name sei Legion, denn ich bin viele.“ Nein, nicht meiner. Seiner. Es ist schlicht unmöglich, dass einer allein soviel Mist macht. Um meinen Wecker zu retten (den sich Jonas, aka „Johnny“, die sechzehnjährige Frucht meines Leibes, lieh, um sicher zu verschlafen) wagte ich mich in sein Zimmer. Ja, ja, ich weiß: Privatsphäre, Eintritt verboten, Rückzugsgebiet für hormongebeutelte Jungmänner. Aber ich liebe ihn! Er ist ein Wunderwerk der Technik! Der Wecker, nicht mein Sohn.

Ich öffne also die Tür. Vorsichtig. Langsam. Wer weiß, was einem da ins Gesicht springt? Mit Sicherheit eine hoch interessante Duftmischung. Was ist es diesmal? Tief einatmen, trau dich, Mädel: Ein Hauch von Zitrone kitzelt die Nase, gefolgt von dem maskulinen Aroma alter Socken. Im Abgang schmeckt das Ganze nach wochenalten Fast-Food-Resten. Und von wegen „flüchtig“: Das einzige, das sich hier verflüchtigt hat, ist der Urheber dieses olfaktorischen Traumas – Johnny ist auf „Papa-Urlaub“. Der Duft selbst bleibt zuverlässig haften. An allem. Und daher muss ich den Wecker retten.

Der funktioniert durch simples Zuwinken. Anders als der Bengel, der nicht einmal auf Zuruf reagiert. Soll heißen: Wenn MEIN Wecker mich frühmorgens sanft aus dem Schlaf piepst, wedle ich mit der schlafwarmen Hand darüber und er hält das Mäulchen noch für fünf Minuten. Sooft ich will. Brüllt hingegen die Weckfunktion SEINES Handys mitten in der Nacht, dann brüllen wir zu zweit. Das Handy und ich. Denn Johnnys Handy geruht in meinem Zimmer zu nächtigen, und obwohl wir es gemeinsam versuchen und dabei an die Wand trommeln wie verrückt… reagiert mein hinter dieser papierdünnen Wand schlafender Sohn nicht einmal ansatzweise.

Wahrscheinlich hat es ihm die Ohren verschlagen. Akute Hormonverstopfung. Ach was. Meinereine hat auch geschlafen wie niedergeknüppelt, bis der Nachwuchs begann, seine Ellbogenfestigkeit an meiner Bauchdecke zu testen. Ganz zu schweigen von den babygeschreidurchkrähten Nächten. Dann die Töpfchenroutine. Und die Zu-Mama-ins-Bett-Routine mit dem garantierten Ich-dreh-mich-50-Mal-bevor-ich-einschlaf-Effekt. Die vielen durchschwitzten Hochsommernächte mit atmendem Thermophor inklusive Magnethaftung an meiner Seite. So betrachtet schlafe ich schon seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten nur mehr oberflächlich, obwohl ich nun schon seit Jahren wieder alleine schlafen darf. (Jetzt halten mich die Sorgen wach, die der Jungmann zwecks Psychohygiene mit einem lässigen „Gute Nacht“ bei mir abliefert, um sich derart erleichtert in den Schlaf zu wälzen.)

Wen wundert’s, dass ich noch immer in der spaltbreit geöffneten Tür stehe, umwölkt von Duftschwaden, die an Müllhalde erinnern und vergessen habe, was ich wollte… ach ja. Der Wecker. Ich winke ihm aus der Distanz zu, bevor ich die Tür wieder schließe. Morgen ist Sonntag. Ich hol‘ dich da raus.