Jenseits der Komfortzone

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In der Nacht zum Karfreitag lag ich neben Krumpfz und meinem Mann in einem Zimmer einer Pension in Fulda. Seit mindestens einer Stunde konnte ich nicht schlafen. Gliederschmerzen liefen meine Wirbelsäule hoch und runter und ich glühte, als würde vulkanische Lava statt Blut durch meine Adern fließen. Das Fieber ließ meine Gedanken kreisen. Erst eine Stunde um die Frage, ob ich – trotz des Stillens – wohl eine Schmerztablette nehmen könnte. Und dann – nachdem ich eine Tablette genommen hatte – um die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir alle drei zu Hause geblieben wären.

Mein Mutterherz hatte sich in den Tagen vor der Abreise mehr und mehr mit Sorgen gefüllt. Schließlich stand die erste große Autofahrt mit Krumpfz bevor: knapp 700 Kilometer nach Norden, wo meine Familie lebt. Früher – also vor Krumpfz – war ich immer gerne gereist, ohne mir groß einen Kopf zu machen. Selbst als mein Mann und ich in den USA ohne ausreichend Wasser und ohne Proviant mit dem Mietwagen durch das Death Valley gefahren waren, hatte mir das keine einzige Sorgenfalte ins Gesicht gezeichnet. Aber als Mutter ließ mich allein schon der Gedanke, unseren Kinderarzt nicht in Reichweite zu haben, fast eine Sitzblockade vor der Wohnungstür abhalten.

Und dann war Krumpfz auch noch krank geworden. Erst hatte er nur ein bisschen gehustet, dann war Schnupfen dazugekommen und schließlich hatte er in der Nacht vor der Abfahrt das ganze Bett vollgespuckt. Am nächsten Morgen rief ich deshalb den Kinderarzt an, in der stillen Hoffnung, er würde uns von der Reise abraten. „Fahren Sie nur, Krumpfz ist doch nicht mehr klein“, sagte er ungerührt, nachdem ich ihm ausführlich Krumpfz’ Symptome beschrieben hatte. Selbst als ich ihm erzählte, dass es in der norddeutschen Tiefebene keine kinderärztliche Ambulanz gibt, schien ihn das keineswegs zu beunruhigen: „Ach, das macht doch nichts! Fahren Sie!“

Und auch mein Mann war dafür, dass wir uns auf den Weg in den Norden machen sollten. „Wenn wir nicht fahren, entscheiden wir uns nur wieder für den bequemen Weg“, sagte er. „Wir müssen mal raus aus unserer Komfortzone!“ Ich nickte. Und dachte an meine Familie: Meine Mutter hatte schon eine Hochzeitssuppe vorbereitet, die es nur bei besonderen Anlässen (also immer, wenn ich zu Besuch komme) gibt. Und meine Oma freute sich schon seit Wochen auf unseren Besuch, schließlich hatte sie ihren einzigen Urenkel noch nicht gesehen. „Okay, dann fahren wir“, sagte ich und begann zu packen.

Das Packen für Krumpfz (drei große Ikea-Plastiktaschen und eine Sporttasche) sowie für uns Eltern (ein kleiner Handgepäckskoffer) entzog mir allerdings das letzte bisschen Gesundheit und schon auf der Autofahrt nach Fulda merkte ich, dass ich ebenfalls krank wurde. Und auch Krumpfz ging es nicht gut: Der Husten riss ihn immer wieder aus dem Schlaf und durch die Nase bekam er kaum Luft. Er quengelte, während wir uns mit unserem Skoda durch einen Stau nach dem anderen schoben. „Das ist eine Scheißidee gewesen“, fluchte ich leise vor mich hin.

Als wir schließlich in Fulda angekommen waren (nach viereinhalb statt den vom Navi vorher prognostizierten drei Stunden Fahrt) war ich am Ende meiner Kräfte. Zusammen mit meinem Mann schaffte ich es gerade noch, Krumpfz ins Bett zu bringen. Als letzterer sich aber nach der ersten Tiefschlafphase meldete und sich in kürzester Zeit in einen regelrechten Rausch brüllte, konnte ich nur noch zusehen, wie mein Mann versuchte, Krumpfz auf dem Arm zu beruhigen. Erst ein Zäpfchen ließ Krumpfz nach einer Stunde Raserei erschöpft einschlafen. Vielleicht hatten ihn dieselben Gliederschmerzen gequält, die auch mich längst fest im Griff hatten.

Am nächsten Morgen hatte sich meine Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, zu Hause zu bleiben in die Frage verwandelt, ob es nicht besser wäre, wieder nach Hause zu fahren. Was wäre schließlich, wenn Krumpfz Fieber bekäme und einen Arzt bräuchte? Wo würden wir uns an einem Feiertag hinwenden? Und was wäre, wenn auch noch mein Mann krank würde? Wie kämen wir dann wieder nach Hause zurück? Erneut bedurfte es ein Gespräch mit meinem Mann und ein Telefonat meiner Mutter, um mein Mutterherz nicht verzagen zu lassen. Schließlich fuhren wir weiter Richtung Norden.

Aber auch in meiner Heimat wurden meine Sorgen nicht weniger. Jedes Mal, wenn sich Krumpfz wärmer als normal anfühlte, war ich überzeugt davon, dass er Fieber haben müsste. Jeder Hustenanfall war für mich der Vorbote einer Lungenentzündung. Und als sich Krumpfz eines Abends übergab, fürchtete ich kurz, er könne austrocknen. Natürlich trat keines der sich vor meinem inneren Auge abspielenden Horrorszenarien ein. Im Gegenteil: Krumpfz steckte die Erkältung deutlich besser weg als ich und ließ sich von allen in der Familie bestaunen und bespaßen. So viel Aufmerksamkeit hatte er schließlich schon lange nicht mehr bekommen!

Und als meine Oma schließlich Krumpfz zum ersten Mal sah und zu sich auf den Schoß nahm, um ihn zu bestaunen und zu begreifen („Was für kleine Händchen! Aber richtig schwer ist er schon!“), vergaß ich kurz all meine Sorgen. Wie sehr hatte ich es mir gewünscht, dass sich die beiden – die immerhin mehr als 92 Jahre trennen – kennenlernen würden. Heimlich wischte ich mir ein paar Freudentränen aus den Augenwinkeln.

Trotzdem habe ich selten (vielleicht sogar nie) so sehr eine Rückkehr in die eigenen vier Wände gefeiert wie den Moment, als ich Krumpfz schließlich vor ein paar Tagen im Autositz über die Schwelle unserer Wohnung getragen habe. Vom Reisen haben ich – ganz anders als früher – erst einmal genug. In der Komfortzone ist es eben doch am schönsten.

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