MANUEL FRICK
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«Ohne meinen Hund hätte ich mich aufgegeben»

Der Tod ihres Mannes hat Natascha Lehner aus der Bahn geworfen: Psychiatrie, Arbeitslosigkeit, Invalidenversicherung. Dies ist die Geschichte ihres langen Weges zurück ins Arbeitsleben.

 

Die schlimme Nachricht erreicht Natascha Lehner am Arbeitsplatz. «Der Christian hat einen Herzstillstand gehabt», sagt eine Verwandte am Telefon. Christian ist Lehners Ehemann. Sofort steigt sie ins Auto und fährt los. Noch auf dem Weg zu ihrem Haus in Zell begegnet sie dem Krankenwagen. Er ist leer. «Da wusste ich, was los ist. Tote nehmen sie nicht mit.»

Über vier Jahre später treffe ich die 39-jährige Lehner im Bistro Dimensione. Kurze, wilde Haare, ein herzliches Lachen, ein warmer Händedruck. Unter dem Tisch liegt ein grosser Hund, Glenn heisst er, sagt sie. «Ohne ihn hätte ich mich damals aufgegeben.» Nach dem Tod ihres Mannes habe sie sich völlig alleine gefühlt. Aber aus Pflichtgefühl gegenüber Glenn, der sie seit neun Jahren begleitet, kämpfte sie.

Der Umgang mit Menschen fällt ihr schwer

Das Dimensione ist nicht irgendein Bistro. Es ist ein soziales Projekt, das Menschen mit psychischer Beeinträchtigung dabei hilft, in die Arbeitswelt zurückzufinden. Auch Lehner hat hier mehrere Monate verbracht. An ihren freien Tagen kommt sie immer noch gerne vorbei. «Hier sind die Leute einfach anders. Nicht nur die Angestellten, auch die Gäste. Sie akzeptieren einen, wie man ist, und urteilen nicht.»

Für unser gemeinsames Mittagessen hat sie den Platz ganz hinten im Lokal gewählt. Sie sitzt in der Ecke. «Grössere Menschenansammlungen mag ich nicht», sagt sie. Sie sei kein Partytiger, und auch Geschäftsessen meide sie. Den Umgang mit Menschen fände sie nicht erst seit dem Tod ihres Mannes schwierig. Schuld sei ein Vorfall, der lange zurückliege. «Es hat mit Gewalt zu tun.»

«Am nächsten Morgen spielte ich mit dem Gedanken, mir etwas anzutun.»

Der Vorfall habe sie zu der Person gemacht, die sie ist. «Ich bin eine Schwierige, das hat auch mein Mann immer gesagt.» Kennen gelernt hatte sie ihn auf einer Onlineplattform. Erst Chat, dann Telefongespräche und schliesslich ein Treffen in Winterthur. «Er kannte meine Vorgeschichte und war einer der wenigen, die damit umgehen konnten.»

Einige Monate später zieht sie mit Glenn und zwei Katzen zu ihm ins Tösstal, eine weitere Katze ist schon in seinem Haus. «Er wollte sich noch Geissen zutun, ich sagte, dann können wir auch Rössli in den Stall stellen.» Nach drei gemeinsamen Jahren wird bei Christian eine schwere Krankheit diagnostiziert. Lehner musste damit rechnen, dass ihr Mann in absehbarer Zeit sterben würde. Dass es aber schon drei Monate nach der Diagnose so weit kam, war ein Schock.

«Am nächsten Morgen spielte ich mit dem Gedanken, mir etwas anzutun.» Ein soziales Umfeld, das sie hätte auffangen können, gibt es kaum. Auch das habe mit ihrer Vorgeschichte zu tun. Sie wird krankgeschrieben, Hilfe kommt vor allem von den wöchentlichen Einzelsitzungen mit einer Therapeutin.

Ein misslungener Wiedereinstieg

Einige Wochen später, wie lange genau, kann Lehner heute nicht mehr sagen, versucht sie, wieder arbeiten zu gehen. «Aber ich konnte mich nicht konzentrieren, brach plötzlich in Tränen aus und hörte nicht mehr auf zu weinen. Es ging einfach nicht.» Sie lässt sich in der Psychiatrischen Klinik Rheinau behandeln: Gesprächstherapie, Ergotherapie, Töpfern. Dann ein Anruf des Arbeitgebers: Kündigung, die Sperrfrist war abgelaufen. «Am liebsten wäre ich in mein Auto gestiegen und gegen eine Wand gefahren.» Davon abgehalten habe sie nur die Angst vor einem missglückten Suizidversuch.

Die Behandlung in der Klinik endet nach rund einem Monat. Die leeren Tage füllt sie nun mit langen Spaziergängen mit Glenn, Fernsehen und Hausarbeit. Nur ihre Therapeutin besucht sie regelmässig. «Irgendwann kam das Thema IV auf.»

In der Invalidenversicherung gilt der Grundsatz «Eingliederung vor Rente». Zuerst soll versucht werden, die Versicherten wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Erst wenn dies scheitert, werden Ausbildungen und Arbeitsplätze im zweiten Arbeitsmarkt vermittelt. Für die Eingliederungsmassnahmen hat die Zürcher IV-Stelle Verträge mit rund 80 Institutionen geschlossen. Eine davon ist das Dimensione.

«Das Schlimmste sind für mich Ferien oder die bevorstehenden Festtage.»

Als Lehner den Vorschlag ihrer IV-Beraterin hört, im Dimensione in der Küche zu helfen, ist sie zuerst nicht begeistert. Eigentlich will sie wieder mit Tieren arbeiten, denn gelernt hat sie ursprünglich Pferdewartin. Doch immerhin: Gut zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes habe sie einen grossen Teil der psychischen Verarbeitung geschafft. Es ging wieder aufwärts, und Lehner wagte den Versuch.

Die Rückkehr in die Arbeitswelt läuft im Dimensione sanft ab. In den ersten drei Monaten wird die tägliche Arbeitszeit von zwei auf vier Stunden gesteigert, dann von vier auf sechs Stunden. Nach sieben Monaten ist für Lehner wieder Schluss im Dimensione. Nicht, weil es ihr nicht gefallen hätte, erzählt sie und strahlt übers ganze Gesicht, sondern weil ihr die IV-Stelle einen Job auf einem Eselhof in Hombrechtikon vermittelte. «Ich habe mich mega gefreut, wieder mit Tieren arbeiten zu dürfen.»

Öffnung während Zeit im Dimensione

Lehners ehemaliger Chef vom Dimensione, Beat Böckli, setzt sich zu uns an den Tisch. Ein bisschen muss er grübeln, doch dann erinnert er sich an die gemeinsame Zeit: «Am Anfang hat sie nicht geredet und fast keine Pausen gemacht.» Man habe schon gemerkt, dass sie sich wohlfühlte, aber sie sei immer sehr ernst gewesen. «Dann ist eine rechte Öffnung passiert, und sie hat viel gelacht in der Küche.»

Nicht alle Integrationsmassnahmen im Dimensione laufen so erfolgreich wie bei Natascha Lehner. «Seit der Gründung vor elf Jahren haben wir über 200 Fälle betreut», sagt Böckli. Nur rund ein Drittel habe den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Ein weiteres Drittel sei im geschützten Bereich untergekommen. «Und beim Rest wissen wir oft von keiner Anschlusslösung.»

Weg von der IV

Lehner arbeitet bis heute auf dem Eselhof, eine 100-Prozent-Stelle, von der IV ist sie nicht mehr abhängig. Die Arbeit im Stall ist körperlich anstrengend: Misten, Füttern, Hufe auskratzen. Am Abend sei sie jeweils erledigt. «Aber ich arbeite wahnsinnig gerne. Das Schlimmste sind für mich Ferien oder die bevorstehenden Festtage.»

Heute spielt Natascha Lehner mit dem Gedanken, einen neuen Partner zu suchen. «Aber ich bin ja eine Schwierige», sagt sie und grinst. An ihren verstorbenen Mann denkt sie immer noch täglich, die Erinnerungen sind mit gewissen Situationen verbunden, zum Beispiel mit Verkehrsstaus: «Christian hat immer sofort gewendet und ist wieder davongerauscht.»

 

Text: Manuel Frick
Bild: Enzo Lopardo
Publiziert: 11.12.2017
Medium: Der Landbote