Deutschlands Zukunft: Heimat & Zusammenhalt

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Unsere Politik? Unsere Gesellschaft? Unser Alltag? Unser Zusammenleben? Manchmal hilft es, sich die Zukunft vorzustellen zu versuchen möglichst wertfrei zu betrachten, was aus dem Status quo erwachsen könnte. Ich prognostiziere, dass der große Trend zum  Individualismus bröckeln wird – dieser Prozess hat wohlmöglich sogar begonnen. Mir scheint es, als würden die Bürger einen neuen Kollektivismus herbeisehnen, der ihnen das Gefühl gibt, dass hinter ihnen ein soziales Netz besteht, das ihnen Sicherheit gibt. Gleichzeitig könnte sich ein neuer Heimatbegriff entwickeln.

Wie ich zur These komme, dass das gesellschaftliche Pendel in Richtung Kollektivismus zurückschwingt, ist leicht erklärt:

Erstens, scheinen politische Losungen gerade eine höhere Attraktivität zu haben, wenn sie Zusammenhalt in irgendeiner Form versprechen. Die AfD schafft dies durch einen patriotisch-nationalistischen Mythos, indem das Volk zusammenhält. Das Verständnis von Kultur ist eindimensional und muss vor Einflüssen „von außen“ geschützt werden. Die Idee zieht genauso bei Pegida.

Das ist keine neue Erzählung, die CSU hat sich unter Franz Josef Strauß an ähnlichen Ideen und Forderungen bedient und der konservative Flügel der CDU scheint Gemeinschaftsgefühl im Kontext von Nationalidentität und „christlicher Leitkultur“ zu verstehen (letztes Jahr schrieb ich über alte CDU-Positionen hier). Im Kern dessen steht der Zusammenhalt der Bürger, die sich einander nah fühlen, weil sie sich ähnlich sind. Das Heimat-Narrativ findet sich jedoch auch bei der Linken und der SPD. Besonders Sahra Wagenknecht greift die Ängste jener Bürger auf, die finanziell schwach sind und sich in einem Kapitalverteilungskampf mit Einwanderern sehen.

Zusätzlich spielt in den linken Parteien die Umverteilungsforderung sowie die Utopie der Solidarität eine große Rolle – beide Themen zielen wieder auf Zusammenhalt ab. In meiner Interpretation der Gründe des Schulz-Hypes des vergangenen Jahres, spielt die Projektion der Hoffnung auf die klassischen SPD-Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit eine übergeordnete Rolle. Die Bürger waren für einen kurzen Moment von Schulz euphorisiert, weil sie unter anderem dachten, er würde genau dies zurückbringen können – die soziale Sicherheit, die Solidarität. In dieser Utopie der Solidarität kümmern sich Bürger umeinander, der Staat ist nicht strafend, sondern unterstützend  und das soziale Netz greift aus einer Art der Nächstenliebe für die Mitbürger – und natürlich auch aus Egoismus, da man schließlich auch selbst in die Situation der Bedürftigkeit rutschen könnte. Dann ist es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass man aufgefangen wird.

Dieser Punkt führt mich zu dem zweiten Grund: die wirtschaftliche Entfesselung der Arbeitsverhältnisse, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Wenn die soziale Absicherung durch Flexibilisierung, Leiharbeit oder prekäre Selbstständigkeit nicht mehr gegeben ist bei gleichzeitigem Wachstum der Konkurrenz und der gefühlten Knappheit von guter Beschäftigung, ist die Psyche schnell angegriffen. Befristete Arbeitsverträge und punktuelles Zuarbeiten in freier Projektarbeit gestatten kaum private Planbarkeit, denn das Wirtschaftssystem ist stets auch mit der Gesellschaft verknüpft. Arbeit macht etwas mit Menschen.

Die Tatsache, dass die Ungleichheit in Deutschland weiter steigt, kann perspektivisch nur durch solidarische Arbeitsmarktpolitik aufgefangen werden, sofern man ein nachhaltiges Interesse daran hat, dass die Frustration sinkt, die Chancengleichheit dafür steigt. Wie soll jedoch die Frustration aufgefangen werden, wenn sich im schlimmsten Fall eine digitale gut verdiende Elite bilden wird, die nicht wegen der Automatisierung wegrationalisiert wird und gleichzeitig ein großer Teil der Arbeitnehmer in wegfallenden Branchen nicht mehr umgeschult werden kann? Das Risiko, dass sich die Ungleichheit – zumindest für eine kurze Zeit – stark verstärkt, besteht und wirkt bedrohlich.

Ich beobachte gerade zwei Tendenzen: einerseits hat die notwendige räumliche und zeitliche Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse den Effekt auf das Individuum, das notgedrungen auch im Privaten flexibler – und somit individualistischer – wird. Vor allem im Niedriglohnsektor scheint dies zu einem Gefühl des ständigen Konkurrenzdruckes zu münden, in dem man darum kämpfen muss, nicht unterzugehen. Gleichzeitig gibt es einen konträren Trend zu konservativen gesellschaftlichen Werten. Vor allem bei Jugendlichen fällt auf, wie sehr sich das Weltbild verschoben hat. Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie des Sinus-Instituts zeigen ein klares Bild: Sicherheit, Tradition und Konformismus sind heutzutage unter Jugendlichen heute sehr stark verbreitet, während in der Vergangenheit die Jugend als Phase für Sturm und Drang galt.

Das Konzept der Ehe wird beispielsweise wieder attraktiver. Während man vor wenigen Jahrzehnten noch versuchte, dieses Familienmodell als rückständig zu überwinden, steigt die Zahl der Eheschließungen wieder. Ferner gibt es immer weniger populäre Subkulturen – angepasst sein, ist nun angesagt. Was zudem nicht zu missachten ist: der Diskurs verschiebt sich wieder nach rechts. Durch radikale Forderungen und gezielte Grenzüberschreitungen von rechts, verschiebt sich das Gefühl dessen, was „normal“ ist. Man erkennt dies am besten am Sprachgebrauch – die fatalistische Metapher der „Flüchtlingswelle“ wird mittlerweile von allen Lagern aufgegriffen.

Diejenigen, die morgen dieses Land gestalten werden, werden die Sehnsüchte nach sozialer Sicherheit aufgreifen und meiner Meinung nach mit nationaler Identität verknüpfen. Die Flüchtlingsbewegung hat eine Situation geschaffen, in der Bürger offen mit identitären und nationalistischen Gruppierungen sympathisieren, weil sie Sorge um ihren Lebensstil haben. Dass das Thema Heimat nun von allen in Bundestag vertretenen Parteien diskutiert wird, ist ein Spiegel dessen. Auch wenn man es nicht ausspricht – Deutschland führt längst die leidige Leitkulturdebatte mit vorgeschobenen Themen wie dem Umgang mit der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit.

Tatsächlich glaube ich, dass die Entwicklung eines neuen Heimatbegriffs der Treiber für kollektivistische Bewegungen sein wird. Ich bezweifle, dass es sich um einen „völkischen“ Heimatbegriff handeln wird, vielmehr blicke ich geistig in die patriotischen USA, in denen man von klein auf lernt, dass man in „the greatest country of the world“ leben würde. Das wirkt aus deutscher Perspektive zwar noch befremdlich, jedoch kann so eine Erzählung integrativ instrumentalisiert werden. Die Identifikation über Heimat – und nicht über Hautfarbe, Religion oder Ethnie – hat in den USA die Funktion gehabt, Menschen insoweit zu integrieren, dass die Gesellschaft nicht auseinanderdriftet und sich die Bürger trotz ihrer Unterschiede dem Land und seiner Ordnung verpflichtet fühlen.

Ich kann mir vorstellen, dass es zu ähnlichen – wenn auch abgeschwächten und reflektierten – Tendenzen in Deutschland kommen wird, um einen psychologischen „Bewältigungsmechanismus“ in der Breite dafür zu schaffen, dass durch die Einwanderung viele Menschen in eine Gesellschaft integriert werden müssen, welche dafür nicht vorbereitet ist. Der Platz für Ideen, die die Überwindung des Nationalstaats fordern, wird vorerst geringer. Dies könnte zwar den europäischen Integrationsprozess in puncto Kompetenzerweiterung behindern, andererseits auch mehr Respekt und Begegnung auf Augenhöhe zu anderen Mitgliedsstaaten schaffen, die seit Jahren patriotische Narrative entwickeln – und somit im besten Fall die Kooperation innerhalb der Europäischen Union stärken.

Sowohl die wirtschaftliche Liberalisierung, als auch die Flüchtlingsbewegung hat ein Momentum geschaffen, in welchem die Sehnsucht nach sozialer Sicherheit und Suche nach einer gemeinsamen Identität steigen. Ich prognostiziere, dass in einigen Jahren liberale Lebensmodelle lediglich in urbanen Metropolregionen in finanziell sicheren Gruppen gelebt werden, während der Rest des Landes sich kulturell konservativ entwickelt und Verbundenheit durch gemeinsame Werte suchen wird. Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob ein Heimatbegriff wirtschaftlich solidarisch und sozial inklusiv gestaltet wird, oder ob er ethnisch exklusiv und radikal kapitalistisch sein wird.

 

Kleiner Exkurs zur Diskursverschiebung, in dem deutlich wird, wie sich das Gefühl von dem, was „normal“ ist, ändern kann (Englisch):

5 Kommentare zu „Deutschlands Zukunft: Heimat & Zusammenhalt

  1. Ich teile diese Prognose zu fast 100%, Du hast sehr gut umschrieben, wie sich das Land und seine Gesellschaft zu entwickeln scheinen. Noch ergänzen möchte ich, dass der steigende Drang nach Gruppierung und Zusammenhalt eben genau durch die „Sturm und Drang“ Generationen befeuert wurde, denn in diesen Phasen wurde konservativ-traditionellen Zusammenkünften, wie z.B. der Kirche, der Bundeswehr oder ähnlichen Plattformen ihre Sinnhaftigkeit abgesprochen und belächelt. Ich mag das gar nicht in eine bestimmte Richtung bewerten, es ist nur ein zusätzlicher Gedanke zu Deinem Text.

  2. Vielen Dank für diese Analyse, die ich weitgehend teile. Aber ist es nicht interessant? Just in dem Augenblick, da wir solche Verhältnisse konstatieren, scheint sich die CDU auf ihre Wurzeln und ihr Kerngeschäft zu besinnen. Die Gesellschaft zusammenhalten, das hat die CDU seit jeher vielleicht sogar mehr im Sinn als die politische Linke. Wenn auch, natürlicherweise, aus einem konservativ-katholischen Menschenbild heraus. Jeder soll weitgehend ungestört seinen Geschäften nachgehen können, es soll dabei etwas übrig bleiben zum Verteilen und es sollte alles in sicheren, geordneten Verhältnissen stattfinden. Man muss diese bürgerlich-konservative Denkweise nicht teilen, aber man kommt auch nicht ganz umhin, darin ein Modell zu erkennen, das jahrzehntelang ganz gut funktioniert hat. Von ideologischem Mief hat man sich inzwischen in der CDU weitgehend befreit, sich sogar für linke Konzepte zu Gesellschaft und Individualität weit geöffnet, sie subsumiert in das Partei-Genom und hat dabei zuweilen etwas die Spur verloren. Ob die CDU sie jetzt wiederfindet? Könnte spannend werden, denn dann wäre das das „Narrativ“, das genau ermöglichen würde, die beiden Extreme, die du beschreibst, halbwegs so zu verbinden, dass diese Gesellschaft weiter funktioniert, gedeihlich, wenn nicht für alle, so doch für möglichst viele.

    1. Ich bin mir nicht sicher, wie gut es tatsächlich funktioniert hat für Frauen, die nicht arbeiten durften oder Migranten oder Freigeister. Ich kann mir vorstellen, dass ein Leben unter eindeutig katholisch-konservativem Diktus seine Schattenseiten hat, man diese jedoch gar nicht artikulieren kann, weil es nicht akzeptiert ist.
      Sollte meine Analyse tatsächlich zutreffen, dann bedeutet es für mich, dass die Vielfalt abnehmen wird in dem was als akzeptables Lebensmodell verstanden wird.

  3. Hallo und Danke für den Artikel,

    grundsätzlich erweist sich Individualismus als Zufriedenheitsfaktor (Vgl. https://marius-a-schulz.de/2018/04/16/glueckslaender/ ), aber die Beziehungsebene der Bedürfnisse leidet in unserer derzeitigen Kultur. Ich vermute, dass eine Werteorientierung ein zentrales Bindeglied zwischen Individualismus und guten Beziehungen ist – weg von der Übernahme des Glaubens an „Konkurrenzkampf“ hin zu gegenseitiger Unterstützung. In der Chinesichen Tradition – eine kollektivistische Kultur – gilt der Glauben, dass erfolgreich wird, wer anderen hilft erfolgreich zu sein: es bilden sich kooperative Beziehungen. Kooperationsfähigkeit bedeutet zum einen Beziehungen einen eigenen Wert zu geben und zum anderen auf fremdschädigenden Eigennutz zu verzichten (Opportunismus). Genau dies wird in der verkürzten Darstellung der Entscheidungstheorie / des Homo Ökonomikus vernachlässigt – ein gutes Entscheidungsmodell für nachhaltigen Nutzen berücksichtigt empathischen Nutzen und empathisches Verhalten (Vgl. beispielhaft https://marius-a-schulz.de/2020/02/25/situative-kompetenz/ ). Dies gilt selbst für Entscheidungen von Kapitalisten: Anstatt eine Rechtslücke auszunutzen und eine degressive Marktdynamik hervorzubringen, kann man auch Lobbyarbeit leisten, um die Rechtslücke zu schließen und so fairen Wettbewerb fördern.

    Zum Begriff der „Heimat“ erachte ich jedwede nationalistische Lösung als verkürzt: die eigentliche Herausforderung liegt im Menschengeschlecht und im Kosmopolitismus, denn um die Vorteile der Globalisierung nutzen zu können bedarf es Regulation auf internationaler Ebene. Genauso braucht es für unsere Währungsunion Regulation auf europäischer Ebene. Eine „Heimat“ auf der Welt und eine politische Integration in Weltzusammenhänge scheinen mir erforderlich – wir müssen als erstes lernen Europabürger zu sein. Das ist im Mainstream überhaupt nicht angekommen, aber wir entwickeln eine politische Weltordnung nach dem Subsidaritätsprinzip, sodass manche Politik heute auf anderen Ebenen liegt als auf der nationalen und dies ist sachlich angemessen. Die konservative nationalstaatliche Regression ist entsprechend unserer faktischen „Heimaten“ bzw. Interaktionsradien eigentlich nicht mehr angemessen – vielleicht fehlt die kosmopolitische Strategie insbesondere in der Allgemeinbildung?

    Mit freundlichen Grüßen,
    Marius Schulz.

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