MIT SICHERHEIT NICHT AFD

Gedanken zu einem Wahlplakat

Die Prenzlauer AfD wirbt auf ihren Plakaten unter anderen mit dem Slogan ‚Sicherheit statt Multikulti‘. Das ist ganz sicher eine Anspielung auf die alte und damals sehr wirkungsvolle Parole ‚Freiheit statt Sozialismus‘. Damals verstand jeder den Bruch der Kategorien, denn in dem einen wählbaren System stand die Freiheit laut Verfassung und in der Tat im Vordergrund, auf der anderen Seite – nicht nur des Eisernen Vorhangs – konnte man der menschenfreundlichen Utopie nachjagen, deren menschenfeindliches Erscheinungsbild allerdings offen lag.

Heute nun ist es wenig sinnvoll, zwei grundverschiedene Aspekte miteinander in Beziehung zu setzen. Unter Multikulturalität, im Volksmund multikulti genannt, versteht man das Nebeneinander verschiedener kultureller Herkünfte. Man kann die Kultur seiner Herkunft niemals 1:1 weiterleben. Eine Moschee in Berlin, etwa in einem Hinterhof im fünften Stock in einem Geschäftshaus im Berliner Wedding, ist nicht wie eine Moschee in Istanbul, umgekehrt kann man  das Schattendasein einer Kirche in Istanbul nicht mit dem Kölner Dom oder der Kirche Santa Maria Novella in Florenz vergleichen, zumal sich die beiden letzteren jeweils neben einem Bahnhof befinden. Ein fünfzehnjähriger Katholik in Prenzlau, der mit seiner Mutter fröhlich zum Familiengottesdienst geht, hat eine andere Kultur als ein fünfundneunzigjähriger Kardinal in Rom, der gegen den Papst intrigiert. Aber selbst ein Land, das, wie die AfD vorschlägt, über tausend Jahre keine Einwanderung zulässt, kann seine Kultur nicht konservieren. Wir denken hier an die Mongolei, einst ein Groß- und Weltreich, nun ein viermal so großes Land wie Deutschland mit so viel Einwohnern wie Hohen Neuendorf. Im Gegenteil: wer starr auf seiner Kultur besteht, sie rein von jedem äußeren Einfluss halten will, dem entgleitet sie aus den Händen, auch dafür ein tausendjähriges Beispiel ist die katholische Kirche. Also: multikulti ist ein Attribut einer weltoffenen Gesellschaft, Sicherheit dagegen eine Eigenschaft staatlicher Ordnung.

Unter Sicherheit verstehen wir vor allem die Sicherheit für den Menschen, für sein Leben und seine Unversehrtheit. In Deutschland haben wir eine Tötungsrate von 0,8, das heißt 0,8 Menschen werden pro Jahr, bezogen auf 100.000 Einwohner getötet. Statistisch gesprochen wird in der Uckermark also kein Mensch pro Jahr getötet. In Russland beispielsweise, einem seit zwanzig Jahren mit straffer Hand geführten Land (um es freundlich auszudrücken), liegt die Tötungsrate mit 6,8 fast zehnmal so hoch. In Brasilien, einem Land mit langjähriger rechtspopulistischer autokratischer, jetzt aber linkspopulistischer autokratischer Regierung, liegt sie mit 21,3 im Mittelfeld, denn es gibt Länder mit weit höheren Werten. In absoluten Zahlen kommt Brasilien aber auf knapp 50.000 getötete Menschen pro Jahr, die Hälfte der Uckermarkbevölkerung.

Welche Sicherheit verspricht uns also die AfD? Sollte sie ein Land meinen, in dem es keine Verbrechen, keine Unregelmäßigkeiten gibt, so ist sie gut beraten, bei sich selbst anzufangen. Hannes Gnauck zum Beispiel ist ein Bundeswehrangehöriger, der vom MAD verfolgt wird und dem es verboten ist, eine Kaserne zu betreten und Uniform zu tragen. In einer Diskussion vor wenigen Tagen war er zu feige, sein Vergehen zu benennen, das angeblich, nach seiner Meinung, geringfügig sei. Besser wäre es doch gewesen, uns zu sagen, worum es sich handelt. Stattdessen zieht er die Militärstaatsanwaltschaft, den Inbegriff staatlicher Ordnung und Sicherheit, in Zweifel. Gegen die Spitzenkandidaten für die Europawahl, Krah und Bystron, wird wegen Vorteilsnahme und Spionage ermittelt. Der Parteivorstand  grinst etwas von Unschuldsvermutung. Das ist richtig, nur die beiden wollen nicht Malermeister werden, sondern Abgeordnete im Europaparlament. Sie wollen eine Partei vertreten, die Sicherheit verspricht, aber von ihren rechtspopulistischen Kolleginnen und Kollegen gemieden wird.

Warum wirbt die AfD, statt mit recycelten Losungen der Altparteien, nicht mit dem, wofür sie wirklich steht: Nationalismus, Autokratie, Segregation. Dann wüssten wir, woran wir sind und wo wir unsere Kreuze nicht machen sollten.

ULTRABRUTALE HORRORSHOW

Über Joachim Wohlgemuths Roman ‚Egon und das achte Weltwunder‘ und Anthony Burgess‘ Roman ‚A Clockwork Orange‘

Im Wikipedia-Artikel über die kleine Kreisstadt Prenzlau steht bei den berühmten Menschen ein DDR-Schriftsteller namens Joachim Wohlgemuth. Er schrieb, neben vielen anderen, noch unbekannteren Büchern einen Roman[1] über einen Jungen, der durch ein sozialistisches Jugendprojekt, das vorher schon die Hitlerjugend verfolgt hatte, geläutert wird. In einem weit gefassten Sinne handelt es sich um eine Konditionierung eines bis dahin nicht ganz angepassten Jugendlichen. Eine Schlägerei ohne ersichtlichen Grund brachte ihn für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Der Roman beginnt an dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis kommt und seinen Freunden, die er nun – erster Schritt der Besserung – für falsch hält, aus dem Weg gehen will. Das gelingt jedoch nicht, er lernt aber beim nächsten Abend mit viel Alkohol ein hübsches, etwas sarkastisches Mädchen kennen, das – zweiter Schritt der Besserung – die Tochter des Kreisarztes ist. Prenzlau wird im Buch durch die riesige Marienkirche gekennzeichnet, im Film erkennt man als Wohnung des Kreisarztes und seiner Tochter deutich die heute noch stehende und soeben frisch restaurierte Villa in der Grabowstraße.

Beide Protagonisten gehen zusammen in dieses Jugendprojekt der Großen Friedländer Wiese, die schon seit fast zweihundert Jahren – zuletzt von der HJ – trockengelegt werden soll. Dort nun beginnt ihre Liebe, aber der eigentliche dritte Schritt der Besserung und Anpassung kommt durch die FDJ, den Prenzlauer Jugendklubleiter und den Lagerleiter, der gleichzeitig herzkrank und herzensgut ist. Die Liebe wird im Buch zwar etwas langatmig, aber auch anrührend geschildert, im Film kommt sie als prüder und müder Akt daher. Das alles wird gar nicht unflott erzählt, aber immer wieder künstlich verlängert durch kleine hausbackene innere Monologe, deren Kohärenz sich oft nicht erschließt. Dazu gehört auch ein überlanger Brief einer Figur, die in der Handlung gar nicht vorkommt: die Exfreundin des Klubhausleiters. Überhaupt ist Komposition oder Konstruktion einer Geschichte wohl nicht das besondere Talent Wohlgemuths gewesen. Dagegen ist der Text an vielen Stellen witzig oder wenigstens fröhlich. Es gibt auch eine winzige zweite Ebene der Kritik an den Verhältnissen, so etwa, wenn der Jugendklubleiter, der Philosophie studiert hat, sich wundert, dass niemand in seinen Jugendklub kommen will. Erst der Protagonist Egon klärt ihn im Arbeitslager auf, dass am Jugendklub ein Schild angebracht ist: FÜR NIETEN IN NIETHOSEN VERBOTEN. Mit Niethosen waren Jeans gemeint, gegen die die DDR-Führung einen ebenso ausschweifenden wie aussichtslosen Kampf führte, den sie auch noch verlor. Zur kritischen Ebene, die aber marginal bleibt, gehört auch die Sichtbarmachung der Parallelität von HJ und FDJ, die sonst in der Literatur und im Leben der DDR tabu war. Der Protagonist hat einen Gegenspieler, der eine zeitlang im Westen gelebt hat, aber enttäuscht zurückkam und nun versucht, eine winzige Subkultur zu installieren. So redet man sich gegenseitig mit boy an, aber das ist das einzige englische Wort. Und man hat eine Band, in der auf Flaschen und Kämmen gespielt wird. In der Verfilmung von Christian Steinke klingt das aber gar nicht schlecht. 

Der Wikipedia-Artikel über Wohlgemuth klärt uns darüber auf, warum möglicherweise die Zensur dem sonst eher erfolglosen Autor dies durchgehen ließ: statt literarisch zu glänzen, machte er sich einen Namen als Funktionär des Literaturbetriebs und als Stasi-Zuträger. Der Neubrandenburger Schriftstellerverband war unter seiner Führung durch und durch verwanzt und von gegenseitiger Denunziation verseucht. Niemand weinte ihm eine Träne nach, sein Grab in Neubrandenburg-Carlshöhe wurde eingeebnet. Das Buch wurde in der DDR eine halbe Million Mal, also nicht schlecht, verkauft. Das achte Weltwunder war übrigens nicht das Mädchen selbst, sondern wäre ihre Verliebtheit, wenn sie sich denn bis dahin schon einmal verliebt hätte. Auch Wohlgemuths zweites Jugendbuch hatte einen schönen, aber verschenkten Titel Das Puppenheim in Pinnow. Aber warum erinnern wir uns seiner?

Im selben Jahr, 1962, erschien ein später weltberühmtes Buch[2] in London. Es wurde durch die hyperexpressionistische und exzentrische Bildsprache der Verfilmung durch einen Großmeister, Stanley Kubrick, zu einem Klassiker der Weltliteratur, zu einem der besten britischen Romane. Auch dieses Buch handelt von einem nichtangepassten Jungen und Anführer einer Gang, der durch zwei Morde und durch weitere ultrabrutale Verbrechen ins Gefängnis gerät, und dort neu konditioniert wird. Aber warum ist dieses Buch so stark, das andere dagegen schwach und vergessen?

Dieses Buch ist eine Dystopie, eine Parabel, aber auch eine krasse Satire. Etwa zu gleichen Zeit als diese beiden Büchern erschienen, schrieb der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz von der Verhausschweinung des Menschen. Damit ist nun keineswegs eine Verdreckung oder Verrohung im Sinne des Pejorativs gemeint, sondern die Selbstdomestizierung des Menschen. In den Jahrzehnten der Höhepunkte der Mechanik, der Ingenieurskunst, an der Schwelle zum elektronischen Jahrhundert – oder Jahrtausend -, kurz: im Anthropozän, glaubten und glauben viele Menschen an die Umgestaltungsmöglichkeit unserer Psyche. Psychopharmaka und Drogen, die auch in der Milchbar des ‚clockwork orange‘ eine Rolle spielen, können uns in den oder aus dem Wahnsinn treiben. Durch den zweiten Weltkrieg ist zudem die Fähigkeit von uns Menschen, Verbrechen gegen uns Menschen in bis dahin unerhörtem Ausmaß zu begehen, sozusagen unter Beweis gestellt worden. Viele Millionen Menschen starben durch deutsche, sowjetische, japanische und chinesische Schuld, angekündigt durch deutsche, türkische, belgische, britische und französische Genozide und Kolonialverbrechen. Seitdem schien alles möglich, und im Westen wie im Osten hatte man Angst vor einer verrohten und verrotteten und verbrecherischen Jugend.

Der erste Teil des Buches zeigt eine sich steigernde Terrorisierung eines nicht benannten Stadtteils von London oder Manchester. Die Angst vor Terror, das Rufen nach dem starken Staat dominierte die Politik. Sobald aber Politiker die Grenze zum Autoritarismus überschreiten, werden sie vom Publikum, vom Verfassungsgericht oder von der Geschichte zurückgepfiffen. In unserer Story trifft es den ‚Minister des Innern, des Hintern, des Untern‘. Das Buch ist eine Dystopie, aber die satirischen Überzeichnungen machen sie nicht nur lesbarer, sondern den Schrecken auch erträglicher.

Im zweiten Teil erleben wir zunächst ein ganz normales Gefängnis. Der Protagonist Alex erweist sich als Oberopportunist und wird Gehilfe des Gefängnispfarrers. Aber dann kommt es zu einem weiteren Mord in der überbelegten Zelle. Nun bekommt Alex freiwillig das neue Konditionierungsprogramm: mit Elektroschocks und Ekelpharmaka wird ihm die Lust an der Ultrabrutale genommen. Ethische Bedenken gibt es nur vom stets betrunkenen Gefängnispfarrer.

Der dritte Teil lässt den Protagonisten das Programm seiner eigenen Gewaltspirale zurücklaufen. Als er schließlich bei dem Schriftsteller landet, dessen Frau an den Folgen von Alex‘ Gewalt starb, kehrt diese sich endgültig gegen ihn selbst um: die mit dem Schriftsteller verbundenen politischen Aktivisten wollen Alex durch ultrabrutal laute klassische Musik zum Selbstmord bringen, um damit die Regierung stürzen zu können.

Hier haben wir zwei der Besonderheiten, die den Roman so wirkungsvoll gemacht haben: die Liebe des Alex zu Beethoven und überhaupt zur klassischen Musik, die er mit Anthony Burgess und Stanley Kubrick teilt, und die besondere Jugendsprache. Burgess nimmt nicht einfach ein eher beliebiges ‚feindliches‘ Wort, sondern er konstruiert einen Soziolekt aus russischen Wörtern, den er Nadsat nennt, der dann aber gar nichts mehr mit den Russen zu tun hat, sondern eher wie eine Vorwegnahme der Rappersprache oder Nachahmung des Rotwelschen, einer Geheim- und Gruppensprache im 18. Und 19. Jahrhundert ist. Die schönsten eigenständigen und neuen Wörter sind horrorshow für хорошо[3] = gut und Gulliver für голова[4] = Kopf. Obwohl die Sprache eigens für diesen Roman konstruiert wurde, gibt sie ihm ein Höchstmaß an Authentizität. Allein durch diese Sprachkonstruktion, auf die Burgess während einer Reise nach Leningrad (Sankt Petersburg) kam, wird der Leser nicht nur in den Bann, sondern auf die Seite von Alex gezogen. Das ist besonders im dritten Teil wichtig, wenn wir Alex zum ersten Mal als Opfer sehen sollen. Und schließlich sollen wir das in den USA zunächst nicht gedruckte letzte Kapitel nicht als Moralkitsch – im Sinne des letzten Kapitels von Tolstois Auferstehung -, sondern als Möglichkeit lesen.

Schließlich ist A Clockwork Orange schon vom Titel her eine Parabel, welche die verschiedenen Möglichkeiten des Menschen zwischen Gut und Böse als fiktive Handlung erzählt, die gleichzeitig Satire und Tatsachenbericht zu sein scheint. Alex verliert durch das ultrabrutale Konditionierungsprogramm nicht nur die Lust zur Gewalt, sondern auch die Fähigkeit zum Genuss der Musik. Wenn Burgess selbst zunächst glaubte, das Buch sei zu didaktisch, so denken wir es heute eher als hochaktuelle Parabel mit sehr verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und Figuren, die alle widersprüchlich, und das heißt realistisch, angelegt sind. Obwohl der fiktive Ort nicht erkennbar ist, erkennen wir die typischen Hochhaussiedlungen der suburbs und banlieus in Ost und West mit ihren fast identischen Wohnungen (zum Beispiel WBS70), dem Dauerfernsehen, den Arbeitssklaven, den austauschbaren Söhnen und Töchtern und Eltern (M & P). Inzwischen sind wir alle aber nicht nur Orangen in mechanischen Uhrwerken, sondern in elektronischen Zerkleinerungs- und Zermürbungsmaschinen.   


[1] Joachim Wohlgemuth, Egon und das achte Weltwunder, Verlag Neues Leben, Ostberlin 1962

[2] Anthony Burgess, A clockwork orange, London 1962

[3] chorosch‘o

[4] golow‘a

BRIEF AN EINEN GUTEN MENSCHEN

Prenzlau, 20.05.2024  8.00

Hallo A.,

das ist ein böses Erwachen für mich: ich habe das als sarkastischen Witz gemeint, dass der liebe Gott jetzt die Bösen holt, weder gibt es einen lieben Gott, noch straft er die Bösen und schon gar nicht belohnt er die Guten.

Der Unterschied ist die Demokratie, die Möglichkeit zu wählen und seine Meinung zu sagen. Du darfst für Russland sein und demonstrieren, du darfst die Hamas bejubeln, im Moment darfst du öffentlich nicht den bösen Spruch aufsagen from the river to the sea – palestine will be free. Wir unterstützen nicht den Krieg, wie du schreibst, sondern wir unterstützen Israel. Alle Kriege (bis auf den Sechs-Tage-Krieg 1967[1]) sind von der jeweiligen Palästinenserorganisation (jetzt Hamas, früher PLO) mit Unterstützung der Nachbarstaaten begonnen und geführt worden. Seit der norwegischen und deutschen diplomatischen Initiative Ende der neunziger Jahre sind wir für die Zweistaatenlösung, obwohl die Gründung Israels schon eine Zweistaatenlösung war: Israel und Jordanien. Die sogenannte Nakba (= Katastrophe, Unglück, Vertreibung der arabischen Bevölkerung) begann im großen Umfang am Tag nach der Gründung Israels (14. Mai 1948) mit dem Angriff der arabischen Nachbarn auf den soeben gegründeten Staat. Die Gründung Israels hat zwar den Makel der türkischen, französischen und dann britischen Kolonie, beruht aber auf einem UNO-Beschluss, der nicht nur durch die ehemaligen Kolonialmächte, sondern auch durch die UdSSR, die Ukraine und Belarus (die damals noch einzeln Mitglied waren!), den Ostblock, eine klare Mehrheit, es gab aber auch Gegner, wie zum Beispiel die Türkei, die arabischen Länder (soweit sie schon existierten), und Enthaltungen wie Äthiopien, wo selbst auch Juden lebten. Auch die jetzige furchtbare Auseinandersetzung wurde von der Hamas mit einem Überraschungsschlag und mit Geiselnahmen begonnen. Wir unterstützen das wiederum angegriffene Israel mit Waffen, aber die palästinensische Bevölkerung humanitär (Lebensmittel, medizinisch, Fluchtbewegungen). Jeder westliche Besucher, die sich die Klinke in die Hand geben, hat immer einen 100-Millionen-Dollar-Scheck in der Tasche. Die Amerikaner haben einen transportablen Hafen (Pier) gebaut, wir werfen Lebensmittel von Bundeswehrmaschinen ab. Die Solidarität der arabischen Nachbarn beschränkt sich auf Geschrei.

Der Vorwurf des Völkermords, der seit 1948 auf allen propalästinensischen Demonstrationen laut wird, trifft selbstverständlich nicht zu. Es gab und gibt keinen Plan wie im Falle des Genozids an den Herrero durch die deutsche Kolonialmacht, des Genozids an den Armeniern durch das osmanische Reich und die jungtürkischen Generäle, oder wie der Genozid an der europäischen jüdischen Bevölkerung, wie er auf der wannsee-konferenz beschlossen und dann durchgezogen wurde.

Ich habe dir doch erzählt, dass ich durch einen kleinen ukrainischen Jungen auf den erschossenen jiddischen Dichter Pinchas Kaganowitsch (DER NISTER) gekommen bin. Als ich seinen 1000-Seiten-Roman gelesen hatte, ist mir zum ersten mal klar geworden, dass sich die so genannten Ostjuden, die von Deutschland aus im Osten, vor allem in Polen, Belarus, der Ukraine und Russland gelebt haben, in einem doppelten Dilemma befanden: die Zionisten wollten nach Israel, das eine britische Kolonie war, nicht ein arabisches Land, ‚heimkehren‘ (das schreibe ich in Anführungszeichen, weil man nicht erwarten kann, dass man nach knapp 2000 Jahren auf dasselbe Land trifft), die Jiddischisten (dieser Begriff ist nicht so geläufig, es waren diejenigen, die sich hier in Osteuropa als Kulturnation organisieren, etablieren und proklamieren wollten) setzten auf die emanzipierte Teilnahme am europäischen Leben. Ein Teil von ihnen ging über Deutschland und Österreich nach Amerika, der größere Teil wurde im Holocaust ermordet. Beides erwies sich als nicht ausführbar. Das ist der Grund, warum wir Israel helfen.

Die Annahme, dass es eine Formel gäbe, nach der man die Schuldigen leicht erkennen könnte, ist falsch. Die Gründer des Staates Israel hatten nicht vor, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben oder gar zu ermorden. Allerdings waren sie wehrhaft. Wir wissen nicht, wer die Pipelines Nordstream I und II zerstört hat. Nimmt man die linke Formel (cui bono – wem nützt es), so zeigen sich mindestens fünf Nutznießer: die USA (tatsächlich!), Russland, die Ukraine, Polen und nicht zuletzt Deutschland.

Ich erkläre die einfache Tatsache, dass man nicht alles erklären immer gern mit dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933. Die kommunistische Erklärung (‚Braunbuch‘) war, dass die Nazis den Reichstag selbst angezündet haben, um die Kommunisten verfolgen zu können, die Nazis dagegen wiesen in einem Schauprozess nach, dass die Kommunisten den Reichstag angezündet haben, weil sie ein Signal gegen die Machtübernahme setzen oder sogar den Aufstand auslösen wollten. Die Archive sind seit langem offen, jedes Jahr erscheint mindestens ein Buch, aber wir wissen nicht, wer den Reichstag angezündet hat.

Die einfache Tatsache, dass man nicht alles erklären kann, kann man nur so erklären, dass es nichts gibt, das nur einen Grund hätte. Alles hat tausend Gründe und jeder Grund hat tausend Folgen. Spinoza schreibt: Jedes Ding kann zufällig (gelegentlich, durch einen Nebenumstand) Ursache der Hoffnung oder der Furcht sein[2].

Die Ukraine ist einerseits der Ort des allrussischen Gründungsmythos: der Kiewer Rus, daher kommt auch der Name, dann aber war sie immer Bestandteil anderer Imperien: Großfürstentum Moskau, Mongolisches Reich, Polen-Litauen (das damals ein Großreich war), von Katharina II. (gebürtige Zerbst-Anhaltinische Prinzessin aus Stettin), die eine große Imperialistin war (wie Iwan IV. und Putin der Schreckliche[3]), dann ins russische Reich integriert. Russland ist unter den folgenden Zaren, unter Lenin, Stalin und deren Nachfolgern immer ein imperialistisches Land gewesen. Unser Irrtum in Bezug auf Putin war, dass wir etwa von 2000-2010 an eine wenigstens teildemokratische Wende geglaubt haben (Denken ist immer auch Wunschdenken), so ähnlich wie bei Erdoğan. Der Hauptgrund aber waren die billigen Rohstoffe, besonders Gas und Öl. Schon damals haben wir gewusst, dass der wirtschaftliche Erfolg Russlands (es ist wirtschaftlich so groß wie Spanien oder Texas) fast ausschließlich auf dem Export seiner Fossilien beruht, und wir hätten es moralisch ablehnen müssen, weil die Bevölkerung nicht insgesamt wohlhabender wurde, das ist wieder so ähnlich wie in China. Der damalige Irrtum schließt nicht aus, dass wir heute manches besser machen. Wir unterstützen die Ukraine nicht nur, weil sie angegriffen wurde (wie Israel, Bosnien[4], Kosovo), sondern auch weil sie auf dem Weg in eine Demokratie sein könnte, weil sie – wie du mir selbst erzählt hast – selbstbewusste, moderne Bürger hat, keine Untertanen.

Es gibt Nazis in der Ukraine, wie in Russland, wie in Deutschland, wie in Italien, wie in Frankreich, wie in den USA (da kommen noch die Rassisten dazu). Aber das ist kein Grund, von außen einzugreifen. Wir haben damals die serbische Luftwaffe nicht zerstört, weil es serbische Nationalisten gab, denn es gibt sie immer noch, sondern weil die serbischen Nationalisten Bosnien angegriffen hatten. Erinnerst du dich an das zerbombte Hochhaus in Sarajevo und die vielen Friedhöfe, weiße für die Bosniaken, schwarze für die Serben?

Und ein letztes Wort zur Aufrüstung. Sie ist die Folge der erfreulichen Abrüstung der letzten dreißig Jahre und der berechtigten Angst, dass auch die USA dem Autoritätswahn (das ist die irrige Annahme, dass jemand für komplexe Probleme einfache Lösungen hat, die er demzufolge mit Gewalt nach innen und außen durchsetzen kann) verfallen könnten. Die Spaltung geht nicht wie im Kalten Krieg durch die Welt, sondern jetzt leider durch alle Länder. Ich sehe in Deutschland kein totes, wenn auch kein blühendes Land. Wir haben mehrere Krisen gleichzeitig. Man darf aber nicht übersehen, dass Deutschland und Japan (Nr. 3 und 4, in dieser Reihenfolge) unter den Wirtschaftsgiganten USA, China und Indien (nr.1, 2 und 5) mit 120 und 84 Millionen Einwohnern die kleinsten sind. Das ist das wahre Wirtschaftswunder!

Ultralinke, rechtsextreme und religiöse Fundamentalisten gefallen sich immer in apokalyptischen Szenarien[5], um ihre Anhänger bei böser Laune zu halten. Allein von der rechten Kritik der letzten zehn Jahre ist keine einzige Katastrophe eingetreten: weder ist der Euro zusammengebrochen, noch die EU, in Deutschland hat kein Bürgerkrieg begonnen, die Kriminalität ist nicht gestiegen, sondern gesunken, der politische Islam hat keine Chance, das Christentum zerstört sich selbst, weil es niemand mehr braucht. Den Linken fällt ohnehin seit Jahrzehnten nichts ein, als Banken enteignen zu wollen. Wie im Falle der Wagenknecht übernehmen sie bedenken- und gewissenlos auch rechte Sprüche, also will sie jetzt Banken enteignen und Asylanten über den Jordan jagen.

Die Zeiten sind schwer, aber einfache Lösungen machen sie nicht einfacher.  


[1] Er begann als Präventivkrieg, nachdem die Staatschefs von Ägypten, Nasser, Syrien, Hafez al Assad, und Irak, Abd as Salam Sarif,  die Vernichtung und Zerstörung Israels zum Staatsziel erklärt und sich mit sowjetischer Hilfe aufmunitioniert hatten.

[2] Ethik, 50. Lehrsatz  (Spinoza, 1632-1677, ist der Begründer der modernen europäischen Philosophie, seinen Lebensunterhalt bestritt er mit dem Schleifen von Linsen für alle berühmten Wissenschaftler, also so ein ähnlicher Mensch wie du) 

[3] Iwan IV. hieß ‚der Schreckliche‘, russisch ‚grosny‘, so heißt heute die Hauptstadt Tschetscheniens

[4] und wir haben nicht eingegriffen, um uns diese Länder anzueignen

[5] selbst das einzige lesbare rechtskonservative Buch heißt Der Untergang des Abendlandes

HELFEN WIRD WER HILFE BRAUCHT

Die Krise zwingt zum Nachdenken. Im Moment erscheint uns das Auf und Ab von Krise und Wohlfahrt gestört: seit der Finanzkrise, gefolgt von der Flüchtlingskrise, der Pandemie und dem Ukrainekrieg, befinden wir uns im fortwährenden Krisenmodus, so dass wir das eigentliche Desaster im Nebel der Angst gar nicht mehr glauben wollen.  Daraus folgt dreierlei:

1. Es wird bald wieder aufwärts gehen.

2. Wir haben uns zu früh gefreut.

3. Wir müssen tiefer nachdenken.

Alle apokalyptischen Szenarien, und es gibt deren immer viele, sind bisher nicht eingetreten. Am lächerlichsten und meistzitierten waren wohl die Weltuntergangsprognosen der Zeugen Jehovas für 1914, 1925 oder 1975. Deren Gründer Charles Taze Russell sah wohl den ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, vorher, aber nicht dessen Ergebnisse: Fünf selbst ernannte Weltimperien stürzten in sich zusammen. Auch der zweite Weltkrieg und der auf ihn folgende Kalte Krieg mündeten in Demokratie und Wohlstand. Daraus folgt nicht, – teleologisch -, dass Katastrophen die notwendige Vorbedingung für Paradiese sind. Es gibt nicht nur keine folgenlosen Paradiese, sondern auch kein Kalkül. Die wirklich großen Erzählungen wissen das und kommen ohne Mathematik aus, was einzelne Interpreten nie hinderte, Berechnungen aus diesen Erzählungen abzuleiten. Vielmehr ist es wohl so, dass die Geschichte nicht endet, weder im guten noch im bösen. Zwar ist alles endlich, aber eben nicht absehbar. So wie tiefe Krisen zum vorausgesagten Weltuntergang verleiten, so träumen wir in Wohlfahrtszeiten vom ewigen Paradies. Selbst der große Kant setzt seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ voran, dass dies nur in dem Sinne des holländischen Gastwirts ironisch gemeint sein kann, der damit ein Bild eines Friedhofs beschriftete. Weiter zitiert Kant Antisthenes, der schon wusste, dass der Krieg und jede selbst gemachte Katastrophe mehr böse Menschen hinzufügen als sie wegnehmen.  

Sollte Putin tatsächlich das Böse planen, mit der Verhinderung des Weizenexports eine Hungerkrise in ohnehin schon armen Ländern heraufbeschwören und damit den Westen in eine noch tiefere Krise stoßen wollen, so kann man hieran sehen, wie verzweifelt falsch jedes Kalkül ist. Allein Deutschland hat 2015 eine Million, 2022 850.000 Flüchtlinge, diesmal aus der Ukraine, aufgenommen, nicht nur ohne Schaden zu nehmen: es war und ist fast nicht spürbar. Sieht man heute glückliche Familien aus Syrien und  Eritrea in Güstrow oder Gießen, so erinnert man sich an das Jahr 2015 mit seiner frohen und richtigen Botschaft: Wir schaffen das, whatever it takes. Andererseits führt eine der Quellen unseres Reichtums, die Globalisierung, Probleme mit sich, die wir früher – in der Euphorie des Aufschwungs – gerne übersehen haben, nämlich das Billigen des Billigen.

Alle Kategorisierungen und Klassifizierungen von Menschen, ja alle Definitionen sind falsch, weil sie nur richtig sind, wenn sie einen nicht anhaltbaren Prozess anhalten. Sie sind bestenfalls Denkpausen. Aus der Hautfarbe lässt sich allenfalls die Vitamin-D-Produktion ablesen, aus der Klasse oder Schicht der Traum vom Wohlstand für alle, und selbst das Geschlecht ist, über seine biologische Funktion hinaus, ein soziologisches Konstrukt. Eine Dragqueen in Pasewalk wirkt wie aus einer anderen Welt und ist doch dort gebürtig. Vielmehr scheint es Menschen und auch Gruppen zu geben, die der Hilfe bedürfen und solche, die helfen können. Sieht man aber genauer hin, so wird man leicht feststellen können: wer der Hilfe bedurfte, ist bereiter, sie auch zu geben. Noch präziser beobachtet, braucht jeder Mensch und jede Gruppe Hilfe und kann sie, erstarkt und der Krise entkommen, geben.

Wenn also die Maxime des menschlichen Handelns nicht mehr eine fabulöse, paradiesisch-sozialdemokratische und einklagbare Gerechtigkeit wäre, sondern – stupid – GEBEN*, dann wäre alles gewonnen und nichts mehr verloren. Man kann nichts falsch machen, wenn man bedingungslos bereit ist zu geben. Schnell merkt man dann, wie unwichtig materielle Güter und wie wichtig – als Beispiele – Lächeln, Strohhalme und Tropfen auf die heißen Steine sind. Geben, aber nicht aufgeben, lächeln, aber nicht schweigen, beharren, aber sich nicht im Recht glauben – das ist schwer, aber so ist das Leben.

Wider alle heute übliche Korrektheit scheint mir in Goethes Wahlverwandtschaften schon ein sehr ähnlicher Vorschlag zu stehen, der aber heute von Lobbygruppen verschrien und beklagt würde:

‚Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern…‘**

Das Wort ‚dienen‘ ist durch die Klassentheorie, das Wort ‚Mütter‘ durch das Patriarchat beschädigt worden. Dennoch zitieren wir gern den großen Preußenkönig, der allen Beamten und sich selbst empfahl, sich als Diener zu sehen. Wir glauben, einer Sache zu dienen, schämen uns aber, einem Menschen zu dienen. Wir glauben an den Mutterinstinkt, sehen aber eine Frau degradiert oder nicht emanzipiert, die ihre Mutterschaft betont. Die Menschheit wird sich durch Geben emanzipieren, sich durch Dienen befreien und sich durch Spielen verewigen.

Vor einigen Tagen wurde ich gebeten, die ukrainischen Grundschulkinder, die mit ihren Müttern in unserer kleinen Stadt Zuflucht gefunden haben, zu beschäftigen, denn ein Großteil der Schüler begab sich auf eine lange vor dem Beginn des Krieges geplante Exkursion. Mir schien es ungerecht, so als würden die ukrainischen Kinder ausgeschlossen, denn die Exkursion ließ sich relativ leicht nachjustieren. Aber die Schulleiterin bestand auf der einmal gefundenen Lösung. Und siehe da: die Kinder genossen es, wieder einmal – wie schon in der Vorbereitungswoche – unter sich zu sein, ohne den unerbittlichen Zwang irgendetwas verstehen zu müssen. Vielleicht fällt es Kindern wirklich leichter, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Aber wir alle wissen, wie sehr Kinder auch einen strukturierten Alltag lieben, in dem sie ohne Uhr und Handy zur bestimmten Stunde essen oder lernen oder spielen können. Die Kinder waren an diesem Tag außerordentlich fröhlich, geradezu befreit, vertraulich und vertrauend. Wir fanden einen Geheimweg, begegneten einer spielverrückten Ziege und kreischenden Hühnern, immer schön die deutschen Wörter übend, die Gans, die Gänse, die Ente, die Enten, das Pferd, die Pferde, entlang der Stadtmauer –  городская стена. Die langsam älter werdende Stadtbibliothekarin freute sich über die fröhliche Gruppe und zeigte bereitwillig ihr Schätze, Gruselgeschichten, Kinderbücher, und ihre schönen Bilder, die meist unsere kleine Stadt darstellen. Sie vergaß ganz, dass bis zum Lesen in deutscher Sprache noch einige Zeit vergehen wird.

Auch im Dorfkonsum, in dem sich tatsächlich in dem Moment der pensionierte kommunistische Bischof mit der immer jünger und schöner werdenden Kunsthofbesitzerin traf, war der Aufruhr groß: kurz vor der Empörung fiel den neuen Besitzern die Lösung aller Probleme ein: mitfühlen, danken, geben. Die große Eispause wurde von der kleinen Stadt fast so beachtet wie in dem Film HIGH NOON. Der nächste Geheimpfad, am Sumpf – болото – und See vorbei, bot einen futuristischen Ausblick auf die Skulpturen von Volkmar Haase. Aber das rückwärtige Tor war verschlossen und auf dem Rückweg über die Straße war die Schönheit schon vergessen.

Die jüngste Anekdote bestätigt den wahrlich nicht neuen Gedanken.  

*’the more I give the more I have – for both are infinite’ SHAKESPREARE, Romeo and Juliet, II,2

**GOETHE, Wahlverwandtschaften, II,7

KEIN HÜSUNG

KEIN HÜSUNG – KEIN VERSCHOLLENER GEDANKE

‚Kein Hüsung‘ (1857) von Fritz Reuter in der Nacherzählung (1960) von Ehm Welk

Der Parvenü-Baron verweigert dem alten Gutsarbeiter den Arzt, lässt aber für den Edelhengst, der mit Koliken liegt, per Eilboten den Tierarzt kommen. Dazu kommen idealisierte philosophische Dialoge von Gutsarbeitern, deren Unbildung und Rückständigkeit eigentlich sprichwörtlich war.  – So stellt man sich die schematische Sozialkritik in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor, aber Fritz Reuter gehörte nicht zum Vormärz und auch Ehm Welk war kein linker Scharfmacher. Beide hatten eher Biedermeier-Qualitäten, amüsante Anekdoten von Onkel Bräsig, von Durchläuchting sowie vom Nachtwächter und den Kindern des fiktiven Kummerow waren eher ihre Sache.

Indessen heißt das älteste Schulgebäude in Neubrandenburg, wo Fritz Reuter einst seine Bestimmung fand, heißen in Mecklenburg unzählige Straßen und heißt sogar eine Straße im Weltkulturerbe Hufeisensiedlung in Berlin Neukölln nach dem Buch, das früher in jedem norddeutschen Haushalt zu finden war: ‚Kein Hüsung‘, jetzt selbstverständlich ‚min…‘, ‚uns…‘ und so weiter Hüsung. Hüsung war das Niederlassungsrecht für nicht mehr leibeigene, aber doch noch sehr abhängige Gutsarbeiter in Mecklenburg und Pommern. Der Grundkonflikt und der Titel des Buches beschreiben die Verweigerung des grundsätzlichen Rechtes jedes Menschen auf eine Wohnstatt, Wohnung, Behausung, niederdeutsch Hüsung. Im Hochdeutschen gibt es jedoch einen feinen Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und Unbehaustheit. Wenn es dem anrührenden Liebespaar des Versepos gelungen wäre, nach Amerika oder in die Großstadt zu entkommen, wie es Johann mehrfach vorschlug, dann wäre es nicht mehr obdachlos, aber trotzdem unbehaust gewesen, nämlich ohne eine vorher absehbare und garantierte Zugehörigkeit. Und genau das ist es, worunter heutige Kommunitarier leiden oder vorgeben zu leiden: dass heutige Menschen nicht mehr vorhersehbar zu traditionellen Gruppen gehören und gehören wollen. Die Kommunitarier sind getriggert vom Gendern, von Veganern und dritten Geschlechtern, von Parteien, die es ihrer Meinung nach gar nicht geben dürfte. Es geht ihnen im Gegensatz zu den Liberalen darum, zu einer Gruppe zu gehören, eben kein Individuum zu sein, das auf Rechte Anspruch hat, die sich nur aus seinem Menschsein ergeben. Der Liberale ist der Meinung, dass Deutsch eine Sprache ist, der Kommunitarier dagegen hält Deutsch für einen Zustand, eine vererbbare Zugehörigkeit, Qualität, Kultur und sogar Leitkultur, die weit über die Sprache hinausgehen: DEUTSCHSEIN HEISST, EINE SACHE UM IHRER SELBST WILLEN TUN[1]. Aber Achtung: auch der krasseste Individualist gehört zu einer Gruppe, nämlich zu den krassen Individualisten. Und auch der krasseste Kommunitarier mit seinem schönen und stolzen Nationalbewusstsein fährt wenigstens nach Holland zur Tulpenpracht und isst Kiwi aus Neuseeland oder Kartoffeln aus Israel.

Darüber streitet die Gegenwart, aber erstaunlicherweise ist diese Gegenwart in dem längst vergessenen, ja fast verschollenen Büchlein vorgeformt. 

Nicht nur der herz- und geistlose Pfarrer, vor allem auch der Kirchenpatron und seine extrem bigotte Gattin treiben die Verweltlichung, die Säkularisierung voran. Jahrhunderte und Jahrtausende als Staatskirche haben die Kirche zu einem Appendix jeden Staates gemacht, zu einem Werkzeug des Bösen, wenn der Staat auch böse war. Das gilt für jede Religion, in dem Punkt sind sie sich einig. Merkwürdigerweise gibt es Kirchenleute, die ausgerechnet den atheistischen Staat für den Niedergang von Kirche und Religion verantwortlich machen wollen. Dagegen war der Impuls für die Entstehung der Religionen gerade Hunger und Repression. Wer also behauptet, der Atheismus sei stärker als der Theismus, der kreuzigt Yesus und Bonhoeffer und Martin Luther King noch einmal. Umgekehrt ist es wohl: erscheinen Unterdrückung, Hunger, Diskriminierung am größten, so sind Glaube und Wissen Navigatoren und Helfer. Im Dunkel hilft nur das Licht. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit[2]. Jedoch geht es in unserem Büchlein nicht um die Theorie, sondern um die Praxis der Menschlichkeit. Es zeigt sich, dass der alte Kutscher Daniel diesen Humanismus als Gen mitbekommen hat und weitergibt: Er hilft dem starken und stolzen Knecht Johann, der vorher das Kind der Müllerwitwe aus der brennenden Mühle errettete, als der im Zorn über die himmelschreiende Ungerechtigkeit den selbstsüchtigen Baron mit der Mistforke (!) ersticht. Der Kommentar des aufgeklärten Freiherrn von Maltzan hingegen lautet: ‚Sein Tod ist Ergebnis seiner Borniertheit.‘ Das Gleiche, können wir heute sagen, gilt auch für die Kirche und die Monarchie. Es gilt übrigens auch, und das sollte uns froh und optimistisch machen, für Diktaturen und Autokratien: sie gehen an ihrer eigenen Borniertheit zugrunde! Umgekehrt schleppt das Gute immer den Bonus seiner Güte mit sich herum, was ihm einen Vorteil, einen manchmal minimalen Vorsprung, eine oft nur winzige Mehrheit sichert. Deshalb wird die Welt auch dann immer ein bisschen besser, wenn es schlecht um sie bestellt zu sein scheint. Wenn die Welt immer schlechter würde, wenn der Mensch nur aus Neid, Missgunst, dem vermeintlichen Recht des Stärkeren bestünde, dann gäbe es inzwischen weder die Welt noch den Menschen. Fritz Reuters schöner Spruch ‚Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl.‘ heißt doch nicht, dass man sich nichts vornehmen soll, damit einem nichts fehlschlägt, sondern dass man, wenn man sich viel vornimmt, auch damit rechnen muss, dass nicht alles gelingt. Der Großteil der Fehlurteile und Fehler beruht nicht nur auf Theologie, wenn sie meint, Recht und Vorrechte zu haben, sondern auch auf Teleologie, die hinter den Ereignissen und Erscheinungen Zwecke vermutet, die sie letztendlich niemandem zuschreiben kann. Ein Artefakt hat einen Zweck, ein Fakt hat möglicherweise einen Sinn, den wir ihm zuordnen können. Am schwersten ist es vielleicht bei uns Menschen zu verstehen: ist der Lebenssinn uns mitgegeben als göttliches oder fatalistisches Etikett oder müssen wir ihn suchen und im besten Fall finden? Der berühmte Lebenssinn hat, soweit ich sehe, nur eine einzige Bedingung: das Leben desjenigen Menschen ist sinnvoll, das sich auf andere richtet.

Der alte Kutscher Daniel hilft auch der Mutter des Christkindes, Mariken, als sie aus ihrer Kate vertrieben wird und bei Schnee und Eis mit dem Baby in ein Vorwerk ziehen muss. Er zieht das Kind auf, nach dem Mariken stirbt oder in den Tod geht – die Umstände und die mögliche Intention sind hier kunstvoll verwoben. Und wie ein Symbol übergibt Daniel dann das Kind seinem Vater, der sich nach der 48er Revolution in seine alte Heimat zurückwagt, aber nicht, um da zu bleiben.

Beinahe noch deutlicher wird die Aktualität dieses unscheinbaren kleinen Büchleins beim zweiten von uns ausgewählten Thema, das man heute Migration nennt. Angeblich ist es dasjenige Thema, das die Gesellschaft heute am meisten spaltet. Inzwischen haben alle Parteien in den vorgeblichen Ruf des Volkes eingestimmt, dass die unkontrollierte Einwanderung gestoppt werden muss, die Populistinnen Weidel und Wagenknecht bleiben natürlich weit vorn. Aber warum sollte die Einwanderung gestoppt werden? Weder leiden wir an Geld- noch an Raummangel, im Gegenteil, wir suchen händeringend Fachkräfte. Diese kommen aber nicht, wie im Märchen die gebratenen Tauben, angeflogen. Man muss sie selbst ausbilden, und da hat Deutschland gute Karten, denn wir haben ein hervorragendes Ausbildungssystem, das sich allerdings zurzeit in derselben Krise befindet wie die Bahn, deren Schienennetz einst ebenfalls weltweit führend war. Wir sollten dringend überlegen, ob nicht unsere ständigen Abwehrdiskussionen Verdrängungen der teils bitteren tatsächlichen Krisen sind. Trotz aller Krisen und sinkenden Wachstumsraten sind wir soeben vom vierten auf den dritten Platz vorgerückt, was die Größe der Volkswirtschaft betrifft. Wir sind also nach den unterschiedlichen Giganten USA und China die dritten, der Grund ist allerdings – ich gebe es zu – das Abrutschen Japans vom dritten auf den vierten Platz. Weniger erfreulich ist, dass wir in der Ungerechtigkeitsquote gleichauf mit der fünftgrößten Volkswirtschaft liegen, nämlich Indien, das noch vor wenigen Jahren sprichwörtlich für seine Armut war. Die Schere zwischen arm und reich ist für meine Vorstellung ein nicht gelungenes Bild, weil es suggeriert, dass sich zwei gleich große Gruppen Menschen gegenüberstehen: die Reichen, die immer reicher werden, und die Armen, die immer ärmer werden. Gleich sieht man den Reichen aus der Nathanparabel[3] vor sich, der, obwohl er 99 Schafe besitzt, für seinen Gast das einzige Schaf seines armen Nachbarn schlachtet. Und da fällt uns, weil wir heute über Literatur reden, der ökonomisch dumme, rhetorisch wirksame Spruch des einst großen Bertolt Brecht ein: ‚Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an. / Da sagt der Arme bleich: / Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Aber wir ergänzen gerne: Doch der Reiche gibt zurück: Ich bin schuld? Das ist dein Glück! Tatsächlich wird die Gruppe der Superreichen, jenes sprichwörtliche eine Prozent der Bevölkerung, immer reicher[4]. Das ist die asymmetrische Schere. Unser Büchlein lamentiert nicht zum tausendsten Mal über die angeblich schädlichen und bösen Ankömmlinge, sondern zeigt in der Geschichte die Gründe für die Auswanderung: Hunger, Unterdrückung, religiöser Fanatismus der Staatskirche, Überbevölkerung durch effektivere Landwirtschaft und beginnende Industrialisierung. Zwischen 1848, genau da spielt unsere Story, und der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind mehr als sechs Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Es sind vermutlich genau dieselben sechs Millionen, die zu viel gewesen wären und die absolut erfolgreiche Industrialisierung belastet, wenn nicht gar verhindert hätten. Unser Weg auf den dritten Platz führte über die Migration! Subjektiv bleibt es natürlich falsch und böse, wenn die Adligen Mecklenburgs sagten: dann geht doch nach Amerika, wenn Honecker und Isaias Afewerki[5] sagten: wir weinen ihnen keine Träne nach und die Geldtransferleistungen der Flüchtlinge klammheimlich in die stets positive Bilanz einrechneten. Aber auch der liebevolle Knecht Johann mit seinem heiligen Zorn will nach Amerika, wo er Freiheit glaubt. Der nicht weniger liebevolle alte Kutscher Daniel dekliniert die Dialektik von Freiheit und Hüsung durch, wenn das auch sehr idealisiert wirkt, sollten wir doch überlegen, ob wir das schöne Wort ‚Hüsung‘ nicht ins Hochdeutsche migrieren können. Migrationen sind also Antworten auf Krisen, Umbrüche, Kriege, immer sind sie auch Aufbrüche, Herausforderungen. Die radikale Gruppe der Gegner der Ein- und Auswanderung – denn ein echter Nationalist kann auch nicht die Auswanderung befürworten – bleibt sich indessen immer gleich. Selbst der große Benjamin Franklin wetterte gegen diejenigen deutschen Einwanderer, die krampfhaft an ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten festhielten. Auch die französischen und wallonischen Refugiés in unserer Gegend wurden beargwöhnt und diffamiert, weil sie mehr als hundert Jahre lang nur französisch sprachen, eigene Schulen und Kirchen hatten und wirtschaftlich nicht schlecht dastanden. Die türkischen Einwanderer der Wirtschaftswunderjahre, also die dritte Generation, fangen jetzt an, in Rücksicht auf deutsche Ämter und Nachbarn, ihre Namen ohne diakritische Zeichen zu schreiben, zunächst aber bei der korrekten Aussprache zu bleiben. Henry Kissinger, ein früher Flüchtling – er war 15 Jahre alt -, blieb immer seinem Fußballverein SPVgg Fürth treu. Das beliebteste Gegenargument: das sind alles Ausnahmen, kontern wir damit, dass wir sagen: ja, die Migranten sind die Ausnahmen, ohne die es die Regel nicht gäbe.

Ehm Welk hat seine hochdeutsche Übertragung des Reuterschen Versepos sicher im Zusammenhang mit dem Drehbuch für den in Ost und West erfolgreichen DEFA-Film von 1954 gemacht. Im Film gibt es nur eine propagandistisch aufgesetzte Szene, am Schluss, als nämlich Johann aus der selbstgewählten Verbannung zurückkommt und seinen Sohn holen will. Man darf nicht übersehen, dass dieser Film zeitgleich mit dem propagandistischen Machwerk des Thälmann-Films in Babelsberg entstand. Der Anfang des Films wirkt pathetisch, aus heutiger Sicht übertrieben schauspielerisch mit viel zu alt wirkenden Schauspielern. Aber alle emotionalen Szenen sind auch heute noch frisch und anrührend. Besonders wird der schon im Buch herausragende Menschenfreund Daniel, der alte Kutscher, in einer Paraderolle von Willy A. Kleinau dargestellt. Kleinau zeigt hier Qualitäten, die zu dieser Zeit sonst nur Heinz Rühmann hatte, etwa im Hauptmann von Köpenick, der zur gleichen Zeit im Westen entstand. Es mag Zeitgeist und Zeitmode gewesen sein, Güte und Leid in dieser Weise verkoppelt darzustellen, aber es gehören dazu auch herausragende Schauspieler. Hanns Anselm Perten glänzt ebenfalls als Gutsbesitzer, der sich selbst richtet, aber tragischerweise den Knecht Johann mit hineinzieht. Dramatisch und realistisch, vom ganzen Dorf wahrgenommen, wird vorher gezeigt, wie Johann das Müllerkind aus den Flammen rettet. Das Verhältnis zwischen Mariken und Johann ist einerseits eine schöne Liebe, andererseits offenbart es aber, dass früher jeder Mann den Patriarchen spielen und jede Frau sich anlehnen musste. Der Spiegel schrieb damals: „Ehm Welk wies überzeugend nach, dass die Liebe immer noch das Brot der Armen ist und offerierte dann als volkserotisches Filmsujet die plattdeutsche Ballade ‚Kein Hüsung‘ von Fritz Reuter. Zusammen mit seiner auch schriftstellernden Ehefrau Agathe, geborene Lindner, machte Ehm Welk aus der Reuter-Dichtung einen saftigen Defa-Volltreffer.“[6]

Wenn also Karl Marx mit seinem zeitgleich zu unserer Geschichte erschienenen Manifest[7] irrte, indem er glauben machen wollte, dass man nur die ‚Expropriation der Expropriateure‘ installieren müsse und schon würde alles gut, wenn also Johann Hinrich Wichern mit seinem ebenfalls als Manifest[8] verstandenen Gedankenspiel irrte, dass Armut das Ergebnis schwindenden Glaubens sei, dann ist die Botschaft der schönen, traurigen und anrührenden Geschichte erstaunlich aktuell und wunderbar tiefgründig. Jedes neugeborene Kind sollte als Chance und Herausforderung, also als Christkind, verstanden, geachtet, geliebt und gefördert werden. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die nächsten zweitausend Jahre.  

Ich schenke dem Museum Angermünde eine Erstausgabe von Ehm Welks Nacherzählung ‚Kein Hüsung‘, VEB Historff Verlag Rostock, 1960, mit einem eingeklebten Originalbrief von Agathe Lindner-Welk. Anlässlich dieser Übergabe des ‚Objekts des Monats‘ am 06.04.2024 entstand dieser Text.  


[1] Richard Wagner

[2] Kant, Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784

[3] Bibel:  2. Samuel 12; Koran: Sure 38, 21-27

[4] Steffen Mau et al., Triggerpunkte, 2023, S.

[5] Diktator von Eritrea

[6] Der Spiegel, Nr. 21, 1953, S. 31

[7] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848

[8] Johann Hinrich Wichern, Thesen auf dem ersten evangelischen Kirchentag, 1848. Wichern verdanken wir aber wenigstens den Adventskranz und die Diakonie.

EHM UND ICH

Ehm-Welk-Literaturpreis des Landkreises Uckermark ging in diesem Jahr an mich [2010]

Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, als ich neun Jahre alt war und mit meiner Kinderheimgruppe am Haus Dammstraße 26 in Lübbenau vorbeischlurfte, an dem die Tafel angebracht war und ist, dass in diesem Haus der Dichter Ehm Welk gelebt hätte und dass er der Verfasser der ‚Heiden von Kummerow‘ gewesen wäre. Das war im Jahre 1957, ich bin 1948 geboren, er hat 1939 da gewohnt, so dass es mir – damals – wie gestern vorkam. Heute liegt eine ganze Epoche zwischen ihm und mir. Merkwürdig ist weiter, dass die Gedenktafel dort hing, obwohl der greise Dichter in Bad Doberan ja noch lebte, schrieb und das Ansehen, das er in der DDR genoss, genoss. Man kann an der Gedenktafel aber auch sehen, wie bekannt seine Bücher und seine Figuren zu seinen Lebzeiten waren. Nicht mit der DDR, wohl aber mit der Veränderung der Welt und ihrer medialen Spiegelung verschwand der Autor vom Bildschirm, mit Ausnahme der drei Städtchen Bad Doberan, wo er starb, Lübbenau, wo er schrieb, und Angermünde, wo er nicht geboren wurde.

Geboren wurde er in Biesenbrow, das heute zu Angermünde gehört. Allerdings war seine Familie aus dem Spreewald eingewandert. Die Ruhelosigkeit, die in diesem familiären Umzug sichtbar wird, hat er sein ganzes Leben beibehalten, sein längster Wohnsitz war sein letzter. Während in seinen Büchern ein geradezu altmodischer Heimatbegriff gepflegt wird, ist er selbst eigentlich eher heimatlos umhergewandert. Dabei wurde er nur einmal vertrieben, nämlich aus dem heutigen Dołuje, das damals Neuenkirchen hieß, keine zwanzig Kilometer von uns entfernt.

Wenn ich auch nicht mehr weiß, was ich als neunjähriger Knabe angesichts der verfrühten Gedenktafel gedacht habe, so habe ich sie doch nie vergessen. Und ich vermute heute, dass diese Gedenktafel für mich eine Mahntafel war, nämlich daran zu denken, dass man, wenn man ein Talent hat, auch damit wuchern soll.

Ich bin ihm also als Kind begegnet. Kurz war dann in der DDR sein Lebensbericht eines alten Mannes beliebt, die ‚Lebensuhr des Gottlieb Grambauer‘, aber mir sagte die dualistische Philosophie des Lassmann und Fassmann nie besonders zu. Interessant ist es allemal, fast ein ganzes Jahrhundert im Leben eines Menschen zu spiegeln, zumal es sich noch fragt, wer da wen spiegelt.

Nach der Wende kauften wir uns ein Haus in der Uckermark. Damit zog auch erstmals in mein Leben, das bis dahin unstet wie seines war, Ruhe ein. Und nachdem diese Ruhe eingezogen war, beschlossen wir, statt den Rasen zu mähen, ihn lieber von Schafen abfressen zu lassen. Die Schafe, die wir wollten, waren Skudden, eine ostpreußische, eigentlich schon ausgestorbene Rasse, die es damals nur in Biesenbrow gab und die wir dort auch abholten. Da fiel mir Ehm Welk wieder ein.

Merkwürdig ist es schon, dass innerhalb eines Menschenlebens ein Wert verfällt, ein Schriftsteller fast vergessen ist, obwohl er sogar durch das relativ neue Medium Film unterstützt war. Für die Umwertung aller Werte, die von Nietzsche gewünscht und befürchtet wurde, braucht es wohl ein doppeltes Menschenleben von 100 Jahren.

Vieles ist ja auch wert, dass es zugrunde geht, so lautet nicht nur ein anders berühmtes Zitat, sondern so ist es ja auch. Gerade die kohärente Dorfgemeinschaft mag heute als Idylle erscheinen, ist ja aber damals auch der Hort der Autorität und des Schreckens gewesen. Das Dorf ist zudem, darauf weist eine heute berühmte Dorfschriftstellerin, Herta Müller, hin, ein Ort fortwährenden Sterbens. In der Stadt kann der Tod verdrängt und vergessen werden, auf dem Land ist er allgegenwärtig. Der Tod betrifft hier nicht nur Käfer und Lämmer, sondern auch die Menschen. Auf dem Dorf im Banat, aber auch in dem kleinen Städtchen Lübbenau fuhr ein reichgeschmückter und gedrechselter tiefschwarzer Leichenwagen, von schwarzen, mit schwarzem Tuch behangenen Pferden gezogen, ihm voran ging der schwarze Mann, der Pfarrer: ein schwarzer Tag für die Familie. Viele schwarze Tage hatte das Jahr des Dorfes.

In jedem Dorf verkünden Kriegerdenkmale, wie man mit Stolz die Söhne in den Tod geschickt hat. Im Dreschkasten blieb ein Bein ums andere. Kinder ertrinken auch heute noch in Dorfweihern. Alkoholiker lassen sich ihre Lebern zersetzen. Das alles sieht man im Dorf und übersieht man in der Stadt. Erschien beim Welk die Familie als Zuflucht, so ist sie bei Müller einer der Gründe zur Flucht. Orte sind nicht mehr Heimat, sondern Gedanken. Ob nicht Welk, der selber ein Getriebener war, auch den Wunsch eine Heimat zu haben, als Heimat angesehen hat?

Zudem mag man heute nicht mehr Welks Volkshochschulton lesen, der belehrend und gequält unterhaltend zugleich ist. Wir wollen heute Texte, denen die Authentizität aus allen Ohren quillt. Kein Wunder, dass die artifizielle Beschreibung einer doppelt untergehenden Kultur, die der Deutschen im Banat und die der kommunistischen Diktatur, die sich wie ein Erlebnisbericht liest, mit dem Nobelpreis des vorigen Jahres geadelt wurde. Fantasy drückt von der anderen Marktseite auf die Buchseiten, und ich verhehle nicht, dass der Käufer des Hauses in meiner Geschichte nicht aus idealistischen Gründen, sondern aus Fantasy-Vorstellungen märchenprinzähnliche Züge hat. Der vielleicht tatsächlich türkische Immobilienmakler, der die Stallanlagen in dem gedachten Dorf gekauft hat, sitzt in einem trockenen, wenn auch klimatisierten Büro in Frankfurt am Main und lässt sich durch keine noch so feuchte Träne rühren.

Immer sieht man eine Welt untergehen. Aber immer findet sich auch ein Chronist des Unterganges. Mag er auch zunächst belächelt werden, später liest man seine Chroniken, um zu erfahren, wie es war, um sich mit den Schwierigkeiten vergangener Zeiten zu unterhalten. Denn trotz aller Billigphilosophien herrscht ja doch eher Optimismus, die Dörfer haben sich neu belebt und neu bevölkert, neue Geschichten geschehen und werden aufgeschrieben, und selbst der sprichwörtlich ärmste Landkreis leistet sich einen Literaturpreis, der benannt ist nach einem sympathischen alten Volkshochschuldirektor, dessen Figuren für kurze Zeit allbekannt waren und der die Idylle auch nicht aufhalten konnte. Und heute krönt sich die zufällige Verbindung unserer beiden Lebens- und Schreibewege. Meine Großmutter, die eine große Verehrerin von Ehm Welk war, wäre heute jedenfalls stolz auf mich.

Ich danke meinen Lesern, der Uckermärkischen Literaturgesellschaft und dem Landrat für die Aufmerksamkeit!

OHNE SÜNDE SEIN

[Erster Hauptsatz]

Wer ohne Sünde ist,

werfe den ersten Stein

Yesus, Yohannes 87

Wenn jeder die Schuld bei sich suchen würde, wären die Täter schnell gefunden. Selbstverständlich ist man nicht an allem schuld, aber an viel mehr, als man anzunehmen bereit ist. Ob wir es glauben oder nicht: wir sind die Wähler der Regierung oder die Nichtwähler der anderen Regierung, wir sind die Konsumenten, wir sind auch die Produzenten. Wir sind auch die Produzenten jenes Mülls, den wir nicht vor unserer Haustür verbrennen lassen wollen. Wir sind auch die Kinder jener Eltern und die Eltern jener Kinder, deren Heim wir nicht in unserer Straße haben wollen, weil andernfalls der Wert unsrer Häuser sinkt. Es ist uns nicht klar, dass der Wert unserer Häuser unsere Kinder sind. Der Grund, dass auf der einen Seite Bausubstanz verkommt, um auf der anderen Seite Papphäuser und grauingraue Sichtbetonfassaden zu bauen, sind wir. 

Geld kann doch nur immer wieder versuchen, die Welt zu regieren, weil wir uns nicht regieren wollen. Auch Dinge eignen sich, geliebt zu werden und uns dominieren zu wollen. An Hitler mag auch unsere schlechte Erziehung schuld gewesen sein, aber haben wir uns ihr widersetzt?

Zu denken, dass die anderen schuld sind, ist nicht nur leichter zu ertragen, sondern immer auch Konsens mit den anderen, die ja wieder andere meinen. Auch hier ist es so: der Zeitgeist sind wir selbst, deshalb heißt er ja auch so.

Wenn es jetzt so scheint, dass die Botschaft zweitausend Jahre lang nicht gehört wurde, so ist dieser Eindruck doppelt falsch. Einmal ist die Kohärenz christlichen Denkens höchstens anderthalbtausend Jahre alt, wahrscheinlich denken die Menschen aber erst seit der Reformation und der Verbreitung gedruckter Bibeln und Kommentare über einzelne Sätze nach. Zum anderen, und das wird noch viel mehr und leichter übersehen, hat sich ganz viel geändert. Zwar gab es in Europa zwei dreißigjährige Kriege, aber sie sind auch eher die Ausnahme gewesen. Gleich nach dem zweiten Krieg (1914-1945) fand aber das Wunder einer krieg- und gewaltlosen Befreiung eines riesigen Volkes unter einem yesusanalogen Führer statt. Europa hat sich endlich, ohne die Herrschaft einer Staatskirche, auf seine Wurzeln als christliches Abendland besonnen. Seine Anziehung, sicher mehr aus wirtschaftlichen als politischen Gründen, ist so groß, dass die eigenen unaufgeklärten Bevölkerungen Angst vor Überfremdung haben. Dahinter steckt vielleicht die alte Angst vor dem Hunger und dem Krieg.

Die Frage ist doch, was mit Sünde gemeint sein kann, wenn man den engen kirchlich-theologischen Kontext einmal unbeachtet lässt. Ist es tatsächlich die Einhaltung von historischen Regelwerken? Immer schon gab es biologistische Ansätze, die freilich auch die Natur auf enge Formeln herunter gezoomt haben. Wer Evolution mit Konkurrenz und Mord und Totschlag gleichsetzt, kann Solidarität, Empathie und Kindchenschema nicht erkennen. Letztlich liegt in solchem Ansatz wieder nur die alte Schuldzuweisung: in mir ist das Gute, aber das Böse ist draußen. Der Wolf ist böse und das Rotkäppchen ist schutzbedürftig. Gerade am alten Feind des Menschen, am Wolf, kann man zeigen, dass ‚Feind‘ ein inneres, kein äußeres Problem ist. Feind ist nur ein anderes Wort für Angst. und weil wir alle Angst haben, ist der Wolf der beste Gefährte des Menschen geworden, seine Würde allerdings wird nicht durch seinen Nutzen gefährdet, sondern durch sein überaufmerksames und dankbares – hündisches – Wesen. Viele Menschenkinder sind schon von Wölfen aufgezogen worden, darunter auch legendäre.

Und weil wir alle Angst vor uns selbst haben, wollen wir richten, wenn jemand im Moment schlechter gehandelt hat als wir oder wenn er oder sie, anders als wir, dabei ertappt wurde, die Regeln nicht eingehalten zu haben. Aber wir alle halten die Regeln nicht ein, deshalb überholen sich Regeln auch regelmäßig. Sie sind historisch.

Wer die zurzeit geltenden Regeln nicht einhält, bestraft sich selbst. Die erste Strafe ist, dass er nicht erfolgreich handeln kann. Die Ehebrecherin – steinigen! – widerspricht der von ihr selbst oder ihrer Familie getroffenen Auswahl genetischer Folgerichtigkeit. Allerdings kann der Ehebruch auch eine Korrektur dieser Folge sein. Dann würde durch die Ermordung der Untäterin die Zukunft der Familie und der Gruppe gefährdet. Der Dieb, als zweites Beispiel, schädigt befreundete oder sogar verwandte Familien oder Gruppen und damit, gemäß dem Allmende-Dilemma, sich selbst. Aber zweitens leben die Untäter mit einem schlechten Gewissen, ohne Erfolgsfreude, zunehmend geächtet. Die Untat selbst ist die Strafe. Es bedarf keiner weiteren Strafe, schon deshalb nicht, weil sie kein Mensch verhängen kann und darf.

Die Angst, dass in der Welt, die nach diesem Satz gestaltet würde, die Mörder frei herumlaufen könnten und Wiederholungstäter ohne Ende sein könnten, ist ganz überflüssig. Natürlich können wir in einer durch Strafen und Amtsanmaßung – jedes Amt ist Anmaßung – geschädigten Welt nicht mit einer Amnestie für Mörder und Kinderschänder anfangen. Wir können gar nicht mit Amnesie anfangen, sondern im Gegenteil, wir müssen uns erinnern, woran wir schuld sind. Wir müssen lernen, dass es das Böse wahrscheinlich nicht als Substanz, als Erbmasse, genetischen Fluch oder dergleichen gibt. Wer das glaubt, ist mit dem Fingerzeigen und Steinewerfen gut beraten. Das Böse ist die Unterlassung des Guten, die Summe der Fehlentscheidungen. Wir müssen also versuchen, Prävention mit Wiedergutmachung zu koppeln. Wir dürfen nicht von unserem Nachbarn verlangen, dass er das Richtige tut. Wir müssen zunehmend von uns verlangen, dass wir weniger unterlassen: nachdenken und vielleicht noch mehr empathisch handeln. Als Wort, als Begriff der Psychologie mag Empathie relativ neu sein, als Gefühl ist es so alt wie die Menschheit. Wir sollten ab sofort nur noch an uns selbst appellieren. Durch Rache erhöht sich die Summe des Bösen, der falschen Entscheidungen, des Leids. Weil es aber Untaten gibt, kann es keine Gerechtigkeit geben. Wir müssen also Gerechtigkeit als das erkennen, was sie wahrscheinlich ist, ein Ideal, das durch unser Handeln stückweise, allerdings auch nur asymptotisch verwirklicht werden kann. Dazu können uns Religion, Philosophie und Kunst ermutigen. Den Mut müssen wir dann aber selbst entwickeln und anwenden. Noch im kommenden Jahrzwanzigst werden wir, möglicherweise durch kritische Situationen in Russland, im Iran, in Israel und in Nordkorea, die Atomwaffen abschaffen. Das wird ein gewaltiger Meilenstein zur Abschaffung der Gewalt sein. In Verwirklichung des schönen und großen Satzes wurde in den weitaus meisten Ländern der Welt die Todesstrafe abgeschafft, in der Folge sank die Anzahl der Morde. Wenn die Waffen abgeschafft werden, wird es weiniger Kriege geben. Vielleicht nennen wir diese schöne Initiative nach dem Yesus-Satz ‚Das Jesse Washington Projekt‘. 

ALLE JAHRE WIEDER….

Würde oder Leitkultur

Eine Kultur, die sowohl durch das eigene Leben als auch durch die Gesellschaft leitet, kann nur ein Regelwerk sein, das mindestens mittelfristig eine gewisse Rigidität aufweist. So muss etwa eine Regel oder Tugend hier bei uns sowohl zu Schillers Gedicht ‚Von der Glocke‘, bei dem schon die Diskrepanz zwischen deskriptiver und normativer Intention auffällt, als auch zu den Auschwitz-Mördern und später zu den Arbeitgebern der Gastarbeiter passen. Es ist schon eine sprichwörtliche Kritik am Konzept der Leitkultur, dass ein so gespreiztes Spektrum nur Sekundärtugenden enthalten kann. So muss etwa der junge Mann aus der ‚Glocke‘, der um die Liebe seines Lebens wirbt, genauso pünktlich und zuverlässig sein, wie der professionelle Mörder in Treblinka oder der Bundestagsabgeordnete der Grünen. Aber: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Sauberkeit sind nicht kausal mit Deutschland verbunden. Kein Belgier oder kein Türke ist verhindert, diese und ähnliche Sekundärtugenden zu besitzen, kein Deutscher ist verpflichtet, pünktlich zu sein oder die Rechtschreibregeln außerhalb von Amt und Schule einzuhalten. Dass ein Türke oder ein Belgier, wenn er hier bei uns arbeitet, eventuell pünktlicher wird, als er bei sich zuhause war, zeigt, dass es eben gerade keine angeborene Kultur, sondern angewöhnte Wirtschaftsweise ist, pünktlich oder ordentlich zu sein. Diese Sekundärtugenden werden auch gerne ‚preußisch‘ genannt und verraten mit diesem Etikett ihre Herkunft im Protestantismus, wie Max Weber[1] annahm, und im Militarismus, der bis 1945 ebenfalls Wesensmerkmal des Deutschtums zu sein schien, dann aber plötzlich einem ausgeprägten Pazifismus wich. Der Pazifismus, der auch die – wie sich jetzt zeigt – sträfliche Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit einschloss, mag seine Ursachen in der nach zwei verlorenen Weltkriegen späten Einsicht, aber auch in der Projektion des Militarismus auf die nun befreundeten Siegermächte gehabt haben. Weder der Bellizismus noch der Pazifismus sind also Bestandteile einer irreversiblen oder autochthonen Kultur, die für Ankömmlinge programmatisch oder gar verpflichtend ist. Zur Pflicht wusste schon Goethe, dass sie nicht in der Ausübung irgendwelcher Tugenden besteht, sondern in der Forderung des Tages[2].   

Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht das pandemische Auftreten der Idee der Leitkultur ein immer wieder versuchtes Remake des Autokratismus oder sogar eines tausendjährigen Reiches ist. Dabei müssen wir gar nicht nur und immer an das äußerst kurzlebige Nazireich denken, dessen eherne Werte in die Scherben zerfielen, die sie vorher selbst besungen hatten[3]. Letztlich geht jede Ideologie von einer universellen und langwährenden Wirkung aus. Schon das allein widerspricht jedem Nationalismus. Bis auf die katholische Kirche hat aber keine das 1000-Jahre-Limit geknackt. Nun aber sind auch ihre Tage gezählt. So wie eine offene Idee nicht in einem geschlossenen System überleben kann, so kann eine geschlossene Ideologie nicht in einer offenen Welt bestehen. Die Welt wird nicht nur durch Demokratie und Wohlstand immer offener, sondern auch durch eine jeden Schlupfwinkel der Welt erfassende Kommunikation. Dabei ist nicht nur das Medium selbst die Botschaft[4], sondern teils versteckt, teils offen gibt es eine wachsende Zahl von Botschaften. So wie das Christentum seine paganen Vorfahren einfach, leichtfertig und bösartig überschrieb, so erleben wir jetzt eine Metamorphose des Christentums.

Eine ‚Leitkultur‘ kann also bestenfalls der pathogene Ausfluss autokratischer Fantasien sein, der das Rad der Geschichte mit einem Kettenschloss arretieren will. Die Schubphasen der uns bekannten Geschichte, Hochkulturen, Renaissance, Aufklärung und Demokratie sind einerseits gerade durch den kulturellen Austausch bei gleichzeitiger Tendenz zum Individualismus bestimmt, andererseits und demzufolge müssen sie ein ganz anders geartetes verbindendes Element haben. Dieses Element muss die Freiheit des Einzelnen genauso intensiv schützen wie die Rechte der Gesamtheit. Anders gefragt: was hat ein Auschwitzmörder mit Albert Schweitzer gemeinsam?

 Soweit wir sehen, gibt es nur ein Konzept, das den Mörder, ohne seine Schuld zu tilgen oder gar zu vergeben, und Albert Schweitzer, ohne ihn in den Schmutz der üblen Nachrede zu ziehen, beschreibt: das der Würde.

Das erste Strafgesetzbuch, das dem Täter seine Würde beließ, ohne seine Schuld zu schmälern, stammt von Anselm Ritter von Feuerbach. Er schaffte nicht nur per Gesetz die Folter als untaugliches Mittel der Wahrheitsfindung ab, sondern begründete statt dessen die Kriminalistik als Methode der Verbrechensaufklärung. Ein Geständnis ohne Folter lässt dem Angeklagten seine Würde, gesteht er nicht, was er getan hat, verzehrt ihn sein Gewissen.

Ein solches Konzept der Würde widerspricht jedem ahistorischen Regelwerk. Dieses korrespondiert allerdings mit einem starken und erzieherisch-restriktiven Staat. Diesem Staat wird zugetraut, dass er, obwohl er die Komplexität der Welt und ihre mannigfachen Probleme offensichtlich und nachweislich nicht meistert, ebenjene Probleme selbst schafft. Am deutlichsten wird das wohl in der absurden Idee vom Großen Austausch. Keine Regierung, weder der Entsende- noch der Empfängerstaaten wird der Probleme der Migration Herr, und trotzdem verdächtigt man sie, dass sie das viel größere Projekt des Austauschs einer ganzen Bevölkerung betreiben könnten.

Die zunehmende Komplexität der Welt führt also auf der einen Seite zu einer wachsenden Ratlosigkeit mit entsprechend verwirrten Regierungen, auf der anderen Seite aber zu neuer Sehnsucht nach Autoritarismus und Kommunarität unter einem omnipotenten Führer. Diese Führer sind es, die ebenso wie alle Argumente gegen die uniformierte und uninformierte Leitkultur sprechen: ersetzen sie doch das Charisma, das sie nicht haben, durch einen pomphaften pseudoreligiösen Kult, als dessen Ziel, Zweck und Ende sie schließlich selbst dastehen. Es spricht übrigens auch gegen die guten und originären Religionen, wenn sie sich in Kulten, Kutten und leeren Ritualen verlieren, statt der Menschheit ihre menschlichen Lehren zu vermitteln, wie zum Beispiel: DU SOLLST NICHT TÖTEN. DU SOLLST ANDERE SO BEHANDELN, WIE DU VON IHNEN BEHANDELT WERDEN WILLST. DU SOLLST ALLE MENSCHEN LIEBEN, SELST DEINE FEINDE, DENN DANN HAST DU KEINE MEHR. Stattdessen zählen sie ihre Sammelgroschen und bügeln ihre Talare, in denen der Muff von tausend Jahren Nichtsnutzigkeit stinkt.

Jede Leitkultur ist notwendig ahistorisch und gleichzeitig an die eigene Vergangenheit gefesselt. Jede Würde ist nackt und bloß der Unbill aller Unverständigen ausgesetzt und muss sich nur aus sich selbst heraus entwickeln. Geholfen wird ihr von einer Vernunft und Bildung, die nicht lediglich angetastet, sondern oft mit Füßen getreten wird. Man muss keinem Verein beitreten, um gut zu sein. Es reicht, gut zu sein. SEI GUT!


[1] Max Weber, Protestantismus und Kapitalismus

[2] Goethe, Maximen und Reflexionen

[3] ‚…wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt…‘

[4] Marshall McLuhan

FATUM IST KEIN FAKTUM

ENTSOLIDARISIERT

Vierzig Jahre lang haben sich die Ostdeutschen verraten gefühlt: vieles war in der DDR offensichtlich schlecht, falsch, lächerlich, ärmlich oder sogar verbrecherisch, selbst der Nationalismus, die letzte Notlösung aller Unglücklichen, war halbiert. Herbeigerufen wurde im Herbst 1989 die Wiedervereinigung, im Frühjahr 1990 die D-Mark. In einem absoluten Glücksfall trafen beide Erwartungen bis Herbst 1990 auch tatsächlich ein. Viel weniger Glück hatten die anderen geteilten Länder: Vietnam, Korea, Jemen, Moldawien, ganz zu schweigen von den Ländern, die sich ab 1990 teilten: Jugoslawien, Tschechoslowakei, Äthiopien, Sudan. Aber dieses Glück machte die vermeintlich verratenen Ostdeutschen nicht glücklich. Schon die übertriebene Aufregung über den Prunk und die Pracht der Führung hätte uns stutzig machen sollen: denn in Wirklichkeit lebten die Großgenossen wie die Kleinbürger, von ein paar Westartikeln in ihren Läden abgesehen. Die First Lady und Ministerin ging manchmal in der Mittagspause in einen normalen Laden in der Leipziger Straße, wo auch ihre Tochter Sonja wohnte, aber dann wurde der Laden von Sicherheitskräften abgesperrt. Haben wirklich so viele unserer Mitbürger geglaubt, dass es sich beim Politbüro um eine normale, kompetente Führungsriege gehandelt hat? Heute ziehen viele Ostdeutsche über die grüne Parteivorsitzende her, weil sie keinen Studienabschluss hat. Aber was waren denn die Honecker, Stoph, Mielke und Neumann? Im übrigen gibt es auch sehr fähige Politiker ohne einen anderen Beruf. Multitalente wie Rathenau werden in Deutschland dagegen auch gerne erschossen.     

Inzwischen werben drei Parteien um die Stimmen der kleinen Wählergruppe der Ostdeutschen. DIE LINKE ist aus der Staatspartei SED hervorgegangen, die AfD aus einer winzigen Anti-Euro-Professoren-Partei und das Bündnis Sahra Wagenknecht ist sozusagen aus sich selbst schaumgeboren, aber andererseits eine triviale Abspaltung der Linken Partei. Die linken Parteien haben sich seit eh und je gespalten und damit entkräftet, die rechten Parteien dagegen gründen sich immer neu und dementieren ihre Geschichte. Seit geraumer Zeit wird nun gerätselt, was die Ostdeutschen vom klassischen Parteienschema abhält, warum sie nicht CDU, SPD, GRÜNE oder FDP wählen.

In der Wahrnehmung derjenigen Menschen, die zunächst in den westdeutschen Konsens einstimmen konnten, gab es aber 2010 (Griechenland-Depression) oder spätestens 2015 (sogenannte Flüchtlingskrise) einen Bruch. Sie glauben, dass sie die gleichen Menschen mit den gleichen Meinungen geblieben sind, jetzt aber plötzlich als rechtsstehend verstanden werden. Dem könnten drei Missverständnisse oder Irrtümer zugrunde liegen.

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GELD IST NICHT POOL, SONDERN FLUSS

Wir Ostdeutschen waren nach 1990 eine Zeitlang damit beschäftigt, den Fluss von Milch und Honig zu genießen. Geld war für die meisten von uns ausreichend vorhanden. Uns fehlten eher Kenntnisse vom Geld. Allerdings spalteten sich von vornherein eine kleine Verlierer- und eine große Verleugnergruppe ab. Die Verlierer, die oft keinen Berufsabschluss hatten und besonders immobil waren, ließen sich sogleich in der sozialen Hängematte nieder. Die Verleugner dagegen gingen in den Westen und Süden, es waren meist Frauen.  2010 oder 2015 merkten einige von uns, dass das Geld aus dem von ihnen geglaubten Pool nicht nur für uns da war. Was ging uns Griechenland an, fragten sie sich 2010. Was scheren uns die Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, schrien sie schon sehr aufgebracht 2015. Auch die Kanzlerin Merkel konnte sie mit ihrem berühmten Satz, der uns viel Anerkennung in der Welt einbrachte, nur schwerlich beruhigen. Wir schaffen was?, fragten sich die Wutbürger und meinten den nicht unerschöpflichen Pool an  Geld. Wir schaffen das!, sagte die Kanzlerin und meinte Courage und Empathie. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Land mit jeder Menge Bargeld im Juliusturm in Spandau[1]. Sie ist, wie alle reichen Länder, ein System, in das – durch Wertschöpfung, Export und Finanzwirtschaft – in jedem Moment ungeheuer viel Geld einfließt, das andererseits auch wieder abfließt. Insofern ist auch die Vorstellung, dass unsere Kinder unsere Schulden bezahlen müssen, falsch. Sie sind schon im übernächsten Jahr beglichen. Aber trotzdem bleibt unsere Gesellschaft ein Solidarsystem, das nicht nur sich selbst verantwortlich ist. Jeder, der lesen kann, muss es auch die anderen lehren. Jeder, der Brot hat, muss es auch teilen. Das ist universeller Konsens.

2

STAAT IST NICHT VATER, SONDERN VERWALTER

Die Solidarität oder Nächstenliebe tritt oft in institutionalisierter Form auf. Bei uns im Osten war SOLI ein Beitrag, glaube ich, für Vietnam. Nach der Wiedervereinigung gab es die Solidaritätsabgabe, einen Lohnsteuerbestandteil, von dem die Menschen im Westen und Süden glaubten, dass nur sie ihn für den Nordosten bezahlen müssten. Nächstenliebe[2], die christliche Variante von Solidarität, ist von den christlichen Kirchen zwar institutionalisiert bewahrt, aber andererseits auch angesichts des sündhaften und sinnlosen Reichtums der Kirchen und Religionsgemeinschaften geradezu verworfen worden. Viele sogenannte Christen halten den Teufel für Realität, Pazifismus aber für eine Metapher. Für das Solidaritätsideal steht heute der Gesellschaftsvertrag nach Rousseau, und der Generationenvertrag nach Bismarck und Erhard. Der Staat ist nicht nur eine riesige Verwaltungsmaschinerie, ich verweise auf das Heeresbeschaffungsamt der Bundeswehr, in dem 5.000 Stabsoffiziere verzögern oder sogar verhindern, dass der benötigte Gegenstand an der richtigen Stelle ankommt, sondern er erscheint vielen als der allgütige Vater, der für alles sorgt, aber auch an allem schuld ist. Linke und Rechte, Verteidiger und Verdammer der Demokratie, sie alle beten den Staat an, anstatt sich ihrer Freiheit, ihrer Würde, ihrer Bildung und ihres Wohlstands zu freuen. Noch vor ein paar Jahren war DIE MERKEL (MERKEL MUSS WEG) an allem schuld, jetzt ist es DIE AMPEL (AMPEL MUSS WEG), morgen wird es DER MERZ (MERZ MUSS WEG) sein. Nicht die Ampel – oder jede andere Regierung – ist pervers, sondern derjenige, der sich solche Schilder an seinen teuren Traktor nagelt. Schon die Vorstellung, dass der Bauer morgens um vier Uhr aufsteht, damit wir zu essen haben, ist abenteuerlich. Natürlich steht er morgens wie wir alle auf, damit er selbst zu essen hat. Denn was wäre ein Bauer, der nicht lesen, schreiben und rechnen kann, der keinen Traktor nebst dem dazugehörigen Kredit hätte, der nicht im Notfall[3] aus seinem Mördermähdrescher von einem Meisterchirurgen herausgeschnitten werden könnte? Die neue Unsitte den Staat zu fokussieren und zu verherrlichen, wo man nur selbst gemeint sein kann, wird assistiert von der vermeintlich großen Reichweite, die ein jeder und eine jede von uns hat. Wir glauben zu Milliarden von Menschen zu sprechen, wenn uns sieben zuhören und drei antworten.

3

FATUM IST KEIN FAKTUM

Durch diese tatsächliche oder auch oft nur vermeintliche Reichweitenvergrößerung erscheint vielen Menschen ihr Schicksal als tendenziell, wenn nicht programmatisch. Sie fühlen sich gemeint, wenn ihre Firma Bankrott anmeldet oder ihr Vermieter willkürlich den Zins erhöht. Das berüchtigtste Beispiel ist die Verklärung der Jugend: Weil meine Jugend mir lieb ist, muss das Umfeld richtig gewesen sein. Und obwohl schon Lessing in seinem berühmten Satz[4], dass es für mich keinen Grund gäbe, meinen Eltern weniger zu glauben als du deinen, die Frage gültig beantwortet hat, wundern wir uns, dass sowohl meine als auch deine Eltern gelogen haben könnten, nicht weil sie Lügner wären, sondern weil sie ihre Welt nicht verstehen konnten. Die Religionen und Philosophien haben leider dazu beigetragen, dass wir alle gern an Vorsehung, vorbestimmtes Schicksal, Gott als Lenker aller Ameisen, den Weltgeist oder die ‚Weisen von Zion‘ glauben oder wider besseres Wissen glauben wollen. Wir können und wollen nicht glauben, dass wir ein Teilchen in sinnloser Raumzeit sind, stattdessen glauben wir uns als a priori geliebt und wichtig, als Macher. Macher kann man werden, aber dann muss man auch erst einmal etwas machen: Bach, Benz, Bosch, Brandt.   

Aber auch auf unserer Seite gibt es einen krassen Irrtum:

4

KONSENS IST NICHT KUMULATIV

1989 glaubten wir alle, dass nun alle Menschen in den Konsens eintreten, in dem wir uns schon befanden: Demokratie, Antiautokratismus, Bildung, Wohlstand, Würde, Menschenrecht. Wie die Demokratie selbst ist auch der ihr zugrunde liegende Konsens (Rousseaus ‚einmalige Einstimmigkeit‘) ein äußerst fragiles Ringen um Gleichgewicht, das man, wenn es braucht, nicht hat, aber wenn man es hat, nicht braucht, wie schon ein Uraltsprichwort sagt.

Die faszinierende Navigation der Ameisen, die trotz Abgrund, Übermacht und Tod immer wieder die Heimat finden lässt, könnte uns hier ein besseres Leitbild sein, als die so genannte nationale Leitkultur oder ein Vater (WARUM EIGENTLICH VATER? I met God, she’s black!), der allwissend, allgütig und allmächtig ist, sei er nun Gott oder Staat.  

FA TUM
FAKTUM

[1] Alter Wehrturm in Berlin-Spandau, in dem in den 60er Jahren tatsächlich etwa 10 Milliarden DM als Bargeld eingelagert waren

[2] Markus 1231    Matthäus 544

[3] Mähdrescherunfall am 19. August 2023 bei Rostock

[4] LESSING, Nathan der Weise, III,7 [Vers 469f.]

WEIHNACHTS- UND NEUJAHRSBRIEF

2023/2024

Im vorvorigen Jahr hatten wir die nächste, im vorigen Jahr die übernächste Flüchtlingskrise. Und obwohl in der Politik heftig gestritten wurde, hat sich das WIRSINDDASVOLK-Volk beruhigt. Vielleicht ist es durch den Ukraine-Krieg oder die Inflation abgelenkt. Die Klimakrise wurde durch das Heizungsgesetz zugeschüttet oder sogar eskamotiert, so wie die Bauern ihren sicheren Untergang durch den Wegfall von durchschnittlich knapp 3000 € pro Jahr und Hof Dieselsubvention projizieren. Der Vergleich mit den Klimaklebern drängt sich auf. Über allem schwebt die Krise der schwächsten Regierung nach Ludwig Erhard als Kanzler, Kohl IV und Merkel IV. Allerdings steht sie vor weitaus größeren Herausforderungen als diese drei schlechten Regierungen. Jetzt rächt sich, was alles gedanken- und gewissenlos versäumt oder dummerweise zugestanden wurde. Mich wundert, dass sich, obwohl die Marke Deutschland im Sturm der Weltgeschichte wackelt, wenn nicht kippelt, kein Politiker, Wissenschaftler oder Dichter findet, der sagt: so jetzt fangen wir neu an, und zwar unten. Die Subvention für den Agrardiesel, die Dienstwagenpauschale oder das Ehegattensplitting sind ganz oben. Sie sind nur ein Sparpotential und keine Vision. Unten dagegen sind die Kinder, von denen ein inzwischen beträchtlicher Teil, der migrantische und anderweitig bildungsferne, zunächst Förderbedarf hat, dann aber zur Hoffnung und zu Mitarbeitern an den Visionen aufsteigt. LASST UNS ENDLICH NICHT MEHR ÜBER DIE HERKUNFT DIESER KINDER SCHWAFELN, SONDERN ÜBER IHRE ZUKUNFT REDEN. Fachkräfte wachsen nicht auf den Bäumen oder fliegen durch die Luft in die geöffneten Münder der vergreisten Nationen, sondern müssen gefördert und ausgebildet werden. Ich erinnere an Uğur Şahin, der von der Schule schon als nicht beachtenswertes Migrantenkind abgestempelt und abgetan war, aber ein Nachbar setzte sich dafür ein, dass er doch noch aufs Gymnasium konnte. Saša Stanišić dagegen wurde von seinem Deutschlehrer entdeckt, ermutigt und gefördert. Wer jetzt nicht weiß, wer Uğur Şahin und Saša Stanišić ist, gehört in die Gruppe von Lindner und Merz bis Söder und Scholz, die nicht verstanden haben, wie man Zukunft macht, die überhaupt keine Macher, sondern nur Schwätzer sind. Noch schlimmer sind allerdings Wagenknecht, Weidel, Maaßen und Aiwanger, die wissentlich das Falsche sagen, weil ihre Wähler das hören wollen. Was wir nicht hören wollen, ist, dass Entwicklung unten anfängt: bei der Bildung, beim Schienennetz und bei der Kommunikation. Schon, wenn wir diese Erneuerung von unten auf begönnen, würde sich die Strahlkraft der Demokratie erhöhen. Je perfekter die Demokratie ist, desto mehr kann sie durch reine Bürokratie ersetzt werden. Je mehr die Demokratie aber durch die Bürokratie am Laufen gehalten wird, desto mehr Anhänger verliert sie. Vielen Menschen fehlt einfach ein Gesicht des Staates. Der Diskurs braucht keine Führer, aber wir Menschen lieben Gesichter. Fast fällt einem der alte Slogan aus dem Prager Frühling ein: Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Der gelebte Sozialismus war unmenschlich, aber der Demokratie fehlt das Gesicht. Merkels Spottname ‚Mutti‘ war ein Ausdruck dessen, obwohl er anders gemeint war. Die bemerkenswerte Gesichts-, Geschichts-, Gedächtnis- und Sprachlosigkeit von Scholz verstärkt nur das Desaster der Demokratie: wenn alles schon geregelt ist, worüber soll man dann reden oder gar abstimmen. Ob nicht diese fatale Sehnsucht nach Autokraten in Wirklichkeit die Sehnsucht nach dem Gesicht ist? Dafür spricht Selenskyj, der Präsident, der sich jeden Tag an sein langsam ermüdendes Volk wendet und mindestens einmal in der Woche an der Front ist. Dagegen lässt Putin sich durch seine Propagandisten vertreten, auch in dem Punkt Hitler ähnlich, der nach Stalingrad nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. Die bösen Staaten China, Russland, Iran, Nordkorea halten an einer voraufgeklärten, sozialdarwinistischen, auf dem vermeintlichen Recht des Stärkeren beruhenden Staatsraison fest, Russland kann man nur zynisch zuraunen: dann muss man aber auch der Stärkere sein. Aber wir bleiben bei unserer felsenfesten Ansicht: das Böse kann und wird nicht gewinnen.  Ich weiß, dass das kein Brief, sondern ein Aufschrei ist. Auch mein Optimismus ist ins Wanken geraten, aber er behauptet sich.

Alles Gute im hoffentlich besseren Jahr 2024.

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KEIN HÜSUNG

EIN VERSCHOLLENER GEDANKE

‚Kein Hüsung‘ (1857) von Fritz Reuter in der Nacherzählung (1960) von Ehm Welk

Der Parvenü-Baron verweigert dem alten Gutsarbeiter den Arzt, lässt aber für den Edelhengst, der mit Koliken liegt, per Eilboten den Tierarzt kommen. Dazu kommen idealisierte philosophische Dialoge von Gutsarbeitern, deren Unbildung und Rückständigkeit eigentlich sprichwörtlich war.  – So stellt man sich die schematische Sozialkritik in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor, aber Fritz Reuter gehörte nicht zum Vormärz und auch Ehm Welk war kein linker Scharfmacher. Beide hatten eher Biedermeier-Qualitäten, amüsante Anekdoten von Onkel Bräsig, von Durchläuchting sowie vom Nachtwächter und den Kindern des fiktiven Kummerow waren eher ihre Sache.

Indessen heißt die älteste Schule in Neubrandenburg, wo Fritz Reuter einst seine Bestimmung fand, heißen in Mecklenburg unzählige Straßen und heißt sogar eine Straße im Weltkulturerbe Hufeisensiedlung in Berlin Neukölln nach dem Buch, das früher in jedem norddeutschen Haushalt zu finden war: ‚Kein Hüsung‘, jetzt selbstverständlich ‚min…‘, ‚uns…‘ und so weiter Hüsung. Hüsung war das Niederlassungsrecht für nicht mehr leibeigene, aber doch noch sehr abhängige Gutsarbeiter in Mecklenburg und Pommern. Der Grundkonflikt und der Titel des Buches beschreiben die Verweigerung des grundsätzlichen Rechtes jedes Menschen auf eine Wohnstatt, Wohnung, Behausung, niederdeutsch Hüsung. Im Hochdeutschen gibt es jedoch einen feinen Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit,  Obdachlosigkeit und Unbehaustheit. Wenn es dem anrührenden Liebespaar des Versepos gelungen wäre, nach Amerika oder in die Großstadt zu entkommen, wie es Johann mehrfach vorschlug, dann wäre es nicht mehr obdachlos, aber trotzdem unbehaust gewesen, nämlich ohne eine vorher absehbare und garantierte Zugehörigkeit. Und genau das ist es, worunter heutige Kommunitarier leiden oder vorgeben zu leiden: dass heutige Menschen nicht mehr vorhersehbar zu traditionellen Gruppen gehören und gehören wollen. Die Kommunitarier sind getriggert vom Gendern, von Veganern und dritten Geschlechtern, von Parteien, die es ihrer Meinung nach gar nicht geben dürfte. Es geht ihnen im Gegensatz zu den Liberalen darum, zu einer Gruppe zu gehören, eben kein Individuum zu sein, das auf Rechte Anspruch hat, die sich nur aus seinem Menschsein ergeben. Der Liberale ist der Meinung, dass Deutsch eine Sprache ist, der Kommunitarier dagegen hält Deutsch für einen Zustand, eine vererbbare Zugehörigkeit, Qualität, Kultur und sogar Leitkultur, die weit über die Sprache hinausgehen: DEUTSCHSEIN HEISST, EINE SACHE UM IHRER SELBST WILLEN TUN[1]. Aber Achtung: auch der krasseste Individualist gehört zu einer Gruppe, nämlich zu den krassen Individualisten. Und auch der krasseste Kommunitarier mit seinem schönen und stolzen Nationalbewusstsein fährt wenigstens nach Holland zur Tulpenpracht und isst Kiwi aus Neuseeland oder Kartoffeln aus Israel.

Darüber streitet die Gegenwart, aber erstaunlicherweise ist diese Gegenwart in dem längst vergessenen, ja fast verschollenen Büchlein vorgeformt. 

Nicht nur der herz- und geistlose Pfarrer, vor allem auch der Kirchenpatron und seine extrem bigotte Gattin treiben die Verweltlichung, die Säkularisierung voran. Jahrhunderte und Jahrtausende als Staatskirche haben die Kirche zu einem Appendix jeden Staates gemacht, zu einem Werkzeug des Bösen, wenn der Staat auch böse war. Das gilt für jede Religion, in dem Punkt sind sie sich einig. Merkwürdigerweise gibt es Kirchenleute, die ausgerechnet den atheistischen Staat für den Niedergang von Kirche und Religion verantwortlich machen wollen. Dagegen war der Impuls für die Entstehung der Religionen gerade Hunger und Repression. Wer also behauptet, der Atheismus sei stärker als der Theismus, der kreuzigt Yesus und Bonhoeffer und Martin Luther King noch einmal. Umgekehrt ist es wohl: erscheinen Unterdrückung, Hunger, Diskriminierung am größten, so sind Glaube und Wissen Navigator und Helfer. Im Dunklen hilft nur das Licht. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit[2]. Jedoch geht es in unserem Büchlein nicht um die Theorie, sondern um die Praxis der Menschlichkeit. Es zeigt sich, dass der alte Kutscher Daniel diesen Humanismus als Gen mitbekommen hat und weitergibt: Er hilft dem starken und stolzen Knecht Johann, der vorher das Kind der Müllerwitwe aus der brennenden Mühle errettete, als der im Zorn über die himmelschreiende Ungerechtigkeit den selbstsüchtigen Baron mit der Mistforke (!) ersticht. Der Kommentar des aufgeklärten Freiherrn von Maltzan hingegen lautet: ‚Sein Tod ist Ergebnis seiner Borniertheit.‘ Das Gleiche, können wir heute sagen, gilt auch für die Kirche und die Monarchie. Es gilt übrigens auch, und das sollte uns froh und optimistisch machen, für Diktaturen und Autokratien: sie gehen an ihrer eigenen Borniertheit zugrunde! Umgekehrt schleppt das Gute immer den Bonus seiner Güte mit sich herum, was ihm einen Vorteil, einen manchmal minimalen Vorsprung, eine oft nur winzige Mehrheit sichert. Deshalb wird die Welt auch dann immer ein bisschen besser, wenn es schlecht um sie bestellt zu sein scheint. Wenn die Welt immer schlechter würde, wenn der Mensch nur aus Neid, Missgunst, dem vermeintlichen Recht des Stärkeren bestünde, dann gäbe es inzwischen weder die Welt noch den Menschen. Fritz Reuters schöner Spruch ‚Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl.‘ heißt doch nicht, dass man sich nichts vornehmen soll, damit einem nichts fehlschlägt, sondern dass man, wenn man sich viel vornimmt, auch damit rechnen muss, dass nicht alles gelingt. Der Großteil der Fehlurteile und Fehler beruht nicht nur auf Theologie, wenn sie meint, Recht und Vorrechte zu haben, sondern auch auf Teleologie, die hinter den Ereignissen und Erscheinungen Zwecke vermutet, die sie letztendlich niemandem zuschreiben kann. Ein Artefakt hat einen Zweck, ein Fakt hat möglicherweise einen Sinn, den wir ihm zuordnen können. Am schwersten ist es vielleicht bei uns Menschen zu verstehen: ist der Lebenssinn uns mitgegeben als göttliches oder fatalistisches Etikett oder müssen wir ihn suchen und im besten Fall finden? Der berühmte Lebenssinn hat, soweit ich sehe, nur eine einzige Bedingung: das Leben desjenigen Menschen ist sinnvoll, das sich auf andere richtet.

Der alte Kutscher Daniel hilft auch der Mutter des Christkindes, Mariken, als sie aus ihrer Kate vertrieben wird und bei Schnee und Eis mit dem Baby in ein Vorwerk ziehen muss. Er zieht das Kind auf, nach dem Mariken stirbt oder in den Tod geht – die Umstände und die mögliche Intention sind hier kunstvoll verwoben. Und wie ein Symbol übergibt Daniel dann das Kind seinem Vater, der sich nach der 48er Revolution in seine alte Heimat zurückwagt, aber nicht, um da zu bleiben.

Beinahe noch deutlicher wird die Aktualität dieses unscheinbaren kleinen Büchleins beim zweiten von uns ausgewählten Thema, das man heute Migration nennt. Angeblich ist es dasjenige Thema, das die Gesellschaft heute am meisten spaltet. Inzwischen haben alle Parteien in den vorgeblichen Ruf des Volkes eingestimmt, dass die unkontrollierte Einwanderung gestoppt werden muss, die Populistinnen Weidel und Wagenknecht bleiben natürlich weit vorn. Aber warum sollte die Einwanderung gestoppt werden? Weder leiden wir an Geld- noch an Raummangel, im Gegenteil, wir suchen händeringend Fachkräfte. Diese kommen aber nicht, wie im Märchen die gebratenen Tauben, angeflogen. Man muss sie selbst ausbilden, und da hat Deutschland gute Karten, denn wir haben ein hervorragendes Ausbildungssystem, das sich allerdings zurzeit in derselben Krise befindet wie die Bahn, deren Schienennetz einst ebenfalls weltweit führend war. Wir sollten dringend überlegen, ob nicht unsere ständigen Abwehrdiskussionen Verdrängungen der teils bitteren tatsächlichen Krisen sind. Trotz aller Krisen und sinkenden Wachstumsraten sind wir soeben vom vierten auf den dritten Platz vorgerückt, was die Größe der Volkswirtschaft betrifft. Wir sind also nach den unterschiedlichen Giganten USA und China die dritten, der Grund ist allerdings – ich gebe es zu – das Abrutschen Japans vom dritten auf den vierten Platz. Weniger erfreulich ist, dass wir in der Ungerechtigkeitsquote gleichauf mit der fünftgrößten Volkswirtschaft liegen, nämlich Indien, das noch vor wenigen Jahren sprichwörtlich für seine Armut war. Die Schere zwischen arm und reich ist für meine Vorstellung ein nicht gelungenes Bild, weil es suggeriert, dass sich zwei gleich große Gruppen Menschen gegenüberstehen: die Reichen, die immer reicher werden, und die Armen, die immer ärmer werden. Gleich sieht man den Reichen aus der Nathanparabel[3] vor sich, der, obwohl er 99 Schafe besitzt, für seinen Gast das einzige Schaf seines armen Nachbarn schlachtet. Und da fällt uns, weil wir heute über Literatur reden, der ökonomisch dumme, rhetorisch wirksame Spruch des einst großen Bertolt Brecht ein: ‚Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an. / Da sagt der Arme bleich: / Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Aber wir ergänzen gerne: Doch der Reiche gibt zurück: Ich bin schuld? Das ist dein Glück! Tatsächlich wird die Gruppe der Superreichen, jenes sprichwörtliche eine Prozent der Bevölkerung, immer reicher[4]. Das ist die asymmetrische Schere. Unser Büchlein lamentiert nicht zum tausendsten Mal über die angeblich schädlichen und bösen Ankömmlinge, sondern zeigt in der Geschichte die Gründe für die Auswanderung: Hunger, Unterdrückung, religiöser Fanatismus der Staatskirche, Überbevölkerung durch effektivere Landwirtschaft und beginnende Industrialisierung. Zwischen 1848, genau da spielt unsere Story, und der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind mehr als sechs Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Es sind vermutlich genau dieselben sechs Millionen, die zu viel gewesen wären und die absolut erfolgreiche Industrialisierung belastet, wenn nicht gar verhindert hätten. Unser Weg auf den dritten Platz führte über die Migration! Subjektiv bleibt es natürlich falsch und böse, wenn die Adligen Mecklenburgs sagten: dann geht doch nach Amerika, wenn Honecker und Isaias Afewerki[5] sagten: wir weinen ihnen keine Träne nach und die Geldtransferleistungen der Flüchtlinge klammheimlich in die stets positive Bilanz einrechneten. Aber auch der liebevolle Knecht Johann mit seinem heiligen Zorn will nach Amerika, wo er Freiheit glaubt. Der nicht weniger liebevolle alte Kutscher Daniel dekliniert die Dialektik von Freiheit und Hüsung durch, wenn das auch sehr idealisiert wirkt, sollten wir doch überlegen, ob wir das schöne Wort ‚Hüsung‘ nicht ins Hochdeutsche migrieren können. Migrationen sind also Antworten auf Krisen, Umbrüche, Kriege, immer sind sie auch Aufbrüche, Herausforderungen. Die radikale Gruppe der Gegner der Ein- und Auswanderung – denn ein echter Nationalist kann auch nicht die Auswanderung befürworten – bleibt sich indessen immer gleich. Selbst der große Benjamin Franklin wetterte gegen diejenigen deutschen Einwanderer, die krampfhaft an ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten festhielten. Auch die französischen und wallonischen Refugiés in unserer Gegend wurden beargwöhnt und diffamiert, weil sie mehr als hundert Jahre lang nur französisch sprachen, eigene Schulen und Kirchen hatten und wirtschaftlich nicht schlecht dastanden. Die türkischen Einwanderer der Wirtschaftswunderjahre, also die dritte Generation, fangen jetzt an, in Rücksicht auf deutsche Ämter und Nachbarn, ihre Namen ohne diakritische Zeichen zu schreiben, zunächst aber bei der korrekten Aussprache zu bleiben. Henry Kissinger, ein früher Flüchtling – er war 15 Jahre alt -, blieb immer seinem Fußballverein SPVgg Fürth treu. Das beliebteste Gegenargument: das sind alles Ausnahmen, kontern wir damit, dass wir sagen: ja, die Migranten sind die Ausnahmen, ohne die es die Regel nicht gäbe.

Ehm Welk hat seine hochdeutsche Übertragung des Reuterschen Versepos sicher im Zusammenhang mit dem Drehbuch für den in Ost und West erfolgreichen DEFA-Film von 1954 gemacht. Im Film gibt es nur eine propagandistisch aufgesetzte Szene, am Schluss, als nämlich Johann aus der selbstgewählten Verbannung zurückkommt und seinen Sohn holen will. Man darf nicht übersehen, dass dieser Film zeitgleich mit dem propagandistischen Machwerk des Thälmann-Films in Babelsberg entstand. Der Anfang des Films wirkt pathetisch, aus heutiger Sicht übertrieben schauspielerisch mit viel zu alt wirkenden Schauspielern. Aber alle emotionalen Szenen sind auch heute noch frisch und anrührend. Besonders wird der schon im Buch herausragende Menschenfreund Daniel, der alte Kutscher, in einer Paraderolle von Willy A. Kleinau dargestellt. Kleinau zeigt hier Qualitäten, die zu dieser Zeit sonst nur Heinz Rühmann hatte, etwa im Hauptmann von Köpenick, der zur gleichen Zeit im Westen entstand. Es mag Zeitgeist und Zeitmode gewesen sein, Güte und Leid in dieser Weise verkoppelt darzustellen, aber es gehören dazu auch herausragende Schauspieler. Hanns Anselm Perten glänzt ebenfalls als Gutsbesitzer, der sich selbst richtet, aber tragischerweise den Knecht Johann mit hineinzieht. Dramatisch und realistisch, vom ganzen Dorf wahrgenommen, wird vorher gezeigt, wie Johann das Müllerkind aus den Flammen rettet. Das Verhältnis zwischen Mariken und Johann ist einerseits eine schöne Liebe, andererseits offenbart es aber, dass damals jeder Mann den Patriarchen spielen und jede Frau sich anlehnen musste. Der Spiegel schrieb damals: „Ehm Welk wies überzeugend nach, dass die Liebe immer noch das Brot der Armen ist und offerierte dann als volkserotisches Filmsujet die plattdeutsche Ballade ‚Kein Hüsung‘ von Fritz Reuter. Zusammen mit seiner auch schriftstellernden Ehefrau Agathe, geborene Lindner, machte Ehm Welk aus der Reuter-Dichtung einen saftigen Defa-Volltreffer.“[6]

Wenn also Karl Marx mit seinem zeitgleich zu unserer Geschichte erschienenen Manifest[7] irrte, indem er glauben machen wollte, dass man nur die ‚Expropriation der Expropriateure‘ installieren müsse und schon würde alles gut, wenn also Johann Hinrich Wichern mit seinem ebenfalls als Manifest[8] verstandenen Gedankenspiel irrte, dass Armut das Ergebnis schwindenden Glaubens sei, dann ist die Botschaft der schönen, traurigen und anrührenden Geschichte erstaunlich aktuell und wunderbar tiefgründig. Jedes neugeborene Kind sollte als Chance und Herausforderung, also als Christkind, verstanden, geachtet, geliebt und gefördert werden. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die nächsten zweitausend Jahre.  

Ich schenke dem Museum Angermünde eine Erstausgabe von Ehm Welks Nacherzählung ‚Kein Hüsung‘, VEB Hinstorff Verlag Rostock, 1960, mit einem eingeklebten Originalbrief von Agathe Lindner-Welk. Anlässlich dieser Übergabe des ‚Objekts des Monats‘ am 22.03.2024, 15.00 Uhr, entstand dieser Text.  


[1] Richard Wagner

[2] Kant, Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784

[3] Bibel:  2. Samuel 12; Koran: Sure 38, 21-27

[4] Steffen Mau et al., Triggerpunkte, Suhrkamp Berlin 2023, S. 71

[5] Diktator von Eritrea

[6] Der Spiegel, Nr. 21, 1953, S. 31

[7] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848

[8] Johann Hinrich Wichern, Thesen auf dem ersten evangelischen Kirchentag, 1848. Wichern verdanken wir aber wenigstens den Adventskranz und die Diakonie.