Offbeat-Kontraste

Das facettenreiche Jazzfestival Offbeat 2023/24 in Basel biegt im Doppelkonzert mit dem Duo Jan Lundgren (p)/Hans Hackenroth sowie mit Fred Hersch (p) fulminant in die Zielgerade ein. Dabei könnten die musikalischen Horizonte zwischen ihnen kaum größer sein. Harmonische Akkorde, melodiös sanft gestimmt das schwedische Duo. Fokussiert mit Silent. Listening, wie Hersch’s aktuelle CD titelt, fordert er unausgesprochen die Zuhörer auf, konzentriert zuzuhören, in sich hinein zu lauschen. Ihm auf seinen Improvisationspfaden hörend zu folgen.

Lundgren und Backenroth sind musikalische Geschichtenerzähler, wie sie beide im Konzert im Stadtcasino Basel sich wechselseitig launig kommentieren. Nicht Unerwartetes erzählen sie, sondern das, was man von ihnen seit Jahren kennt, auch wenn sie verschmitzt The Unaspected Return ansagen.

Ihr Duo-Spiel ist von einer enigmatischen Balance zwischen Klavier und Kontrabass getragen. Leicht und unbeschwert, smoothy elegant eine Komposition Lundgrens auf seinen Hund Svante, anschließend nostalgisch mit der Beatles-Hymne She’s leaving home wohlige Applaus-Gefühle bei den Konzertbesuchern auslösend. Eigenkompositionen im Wechsel mit Interpretationen von Kompositionen, die wesentlicher Teil des musikalischen Gedächtnisses sind, wie auch auf ihrer aktuelle CD Jazz Poetry zu hören ist.

Lundgrens Sound, den er im Trio mit Paolo Fresu (Trompete) und Richard Galliano (Akkordeon) mit der CD Mare Nostrum verfeinert und dokumentiert hat (Mare nostrum janusköpfig vom 10.04.2019), findet in der Zusammenarbeit mit Backenroth eine akustisch inspirierte Fortsetzung.

Fred Hersch, seit Jahren einer der interessantesten Jazz-Pianisten weltweit, ist ebenso kein lärmender Lautsprecher. Silent. Listening, wie seine aktuelle CD (Lichter in der Nacht vom 08.05.24) vom titelgebend formuliert: Konzentriert schweigen, zuhören. Softly, As In A Morning Sunrise, respektive Star-Crossed Lovers sind musikalische Narrative, die improvisierend als Storytelling music in die Nacht zu lauschen scheinen.

Konzentriert fokussiert, zumeist über die Klaviatur gebeugt, hebt Hersch für Momente den Kopf. Ein zufriedenes Lächeln huscht über sein Gesicht. Den Blick nach oben gewendet, lädt seine Musik ein, mit ihm zu wagen, nach den Sternen zu greifen. Komponierte Strukturen assoziieren kontrapunktisch gebaute Klangräume. Eine Meditation in zeitgenössischen Klangwelten vornehmlich mit eigenen Kompositionen, durchmischt mit Standards in freien Improvisationen, die ins Unvorhersehbare, ins Fließende führen.

Erinnerung an die im letzten Jahr verstorbene Grande Dame des Jazz-Pianos Carla Bley und zum Abschluss eine Hommage á Thelonious Monk resümieren ein mehr vom Inneren des Klaviers Herausspielen, wie es Hersch nennt.

Dass Backenroth und Lundgren mit Hersch‘s mitunter düster schimmernder Melancholie, die seinem Konzert mitunter immanent ist, nichts gemein haben, mit ihm im Kontrast stehen, macht gerade das Spannungsvolle dieses Konzertabends aus.

26.05.24

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Patricks Traum

Der Mai in Basel, meteorologisch ein Wechselspiel von Sonne und kühlen Regenschauern, spiegelt sich auch in Kunstausstellungen und Theateraufführungen wider. Die Sommerausstellung 2024 in der Fondation Beyeler, erstmals parallel im Haus und im Park inszeniert, antizipiert die temporäre Wettersituation ungeplant mit dem von Fujiko Nakaya (91) künstlich erzeugten Nebel, der den Park und die Besucher sekundenschnell mit Wassertropfen einhüllt.

Im Theater Basel fällt kurzfristig die Aufführung Sommergäste, Schauspiel nach Maxim Gorki aus. Tage später gibt es mit Ein Sommernachtstraum, Komödie von William Shakespeare, mehr als nur einen sommerlich inspirierten Ersatz. Die Premiere im Dezember 2022 am Theater Basel löste nach einer mehr oder weniger halbwegs durchgestandenen, diskret die Öffentlichkeit meidenden Pandemie ähnlich der von 1595, als Shakespeare das Stück schrieb, eine kathartische Theaternacht aus. Im Mai 2024, wieder alles scheinbar normal, überwältigt die Inszenierung von Antú Romero Nunes mit einer ungebrochenen poetisch musikalischen Kraft. Er steht programmatisch für eine Regiearbeit, die auf offene Kommunikation mit dem Ensemble setzt. Das haben sich auch schon andere Theater erfolgreich zunutze gemacht (Caligulas Schatten vom 08.11.2017).

Damals 1595, in Zeiten von Desorientierung und dem Wunsch nach Abwechslung sowie befreiendem Lachen geprägt, muten wie eine Referenz zur Situation in der Gesellschaft heute an. Möglich, dass es in diesen Maitagen mehr regnet als zu Shakespeares Zeiten. Gegenüber den in Liebestrauer getränkten Tränen kann das vernachlässigt werden. Vielleicht, weil Regenwasser fehlt, doch jetzt gibt’s gleich den Wolkenbruch aus meinen Augen, assoziiert Hermia (Nairi Hadodo, jugendlich frivol, lasziv mit spielerischem Witz) eine Welt phantastischer Einbildungen jenseits einer Katalog-Realität: Schon wieder klein, und anders nicht wie klein? .. Nicht gar so klein, dass nicht Dir meine Nägel an die Augen reichten

Es sind Momente, wo Phantasie und eine spirituelle Qualität, die sich nicht in den Kategorien der instrumentellen Vernunft fassen lässt (Ina Habermann, Shakespeare heute?). Es sind Grundelemente einer Perspektiven verschränkenden Inszenierung, die fragt, was denn Realität überhaupt sei. Antú Romero Nunes verortet Shakespeares theatralische Erfindung eines Stücks im Stück (asides) in einer Schulaula. Die siebenköpfige Lehrer-Körperschaft teilt die Rollen in Mehrfachbesetzung nicht nur unter sich auf. Sie geben den Sommernachtstraum-Figuren in ihrer Person weiterhin eigene Vornamen.

Michael Klammer (als Theseus und Oberon spielerisch authentisch in den unterschiedlichen Rollen geschmeidig wandlungsfähig) versucht als Fabio das Schauspielpersonal zu sortieren. Das führt zu ersten komödiantischen Aktionen. Sven Schelker, als Patrick der Typ, der sich in die Brust wirft, alles spielen zu können. Vom Löwenschrei bis zum sich selbst irritierenden, liebestollen, eselsohrigen  Demetrius. Keine romantische Verklärung kräuselt sich auf. Eine handfeste Lebenswirklichkeit in und außerhalb der Schule erzählt auf der minimalistischen, wesentlich auf drei Bänke sowie eine Sound-Musik-Insel (Luzius Schuler mit einem luziden Sound Producing) beschränkten Bühne von Matthias Koch die Sommernachtsgeschichte als die einer zauberhaften Feenwelt.

Shakespeares Versuchs- und Spielanordnung des Sommernachtstraums setzt für diesmal die Grenze von Wirklichkeit und Traum außer Kraft. Eine alltägliche Erfahrung: Der Moment, wenn ich jeden Abend einschlafe, entzieht sich meiner Bestimmung. Der Traum schwebt gleichsam in einer unbewussten Wirklichkeit ein.

Dieses Schwebende umflort das Zauberkraut von Puck (Gala Othero Winter in sportiv gelenkigem Gestus des Spiritus Rector im Feenreich) im Auftrag Oberons. Seine Gattin Hippolyta, wie auch als Titania (Aenne Schwarz mit sich forsch zusprechendem Mut) durchwebt diese Sommernachtstraum in der lebensbejahenden Version von Antú Romero Nunes. Clownesk bewegt, performativ ein- und ausatmend.

Ein Bilderbogen von despotischem Machtanspruch der Athener Oberschicht sowie von Liebesschwüren, die sich mit Pucks Zauberkraut Vielliebchen umgehend in ihr Gegenteil verkehren. Ein Jagen und Haschen nach der wahren Liebe – oder doch nur nach der Ware Liebe? Die Dramaturgie der Basler Aufführung folgt der Intention: Wir schreiben den Sommernachtstraum weiter (Inga Schonlau).  

Liebe wird immer auch im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse erfahren; mitunter zum Leidwesen der Liebenden. Shakespeare lässt sie in den Wald fliehen. Sie entfliehen gewissermaßen der Apokalypse ihrer eigenen Beziehungen. Dorthin, wo die Kräfte der Realität außer Kraft gesetzt sind. Dass in der Inszenierung Helena von Fabian Krüger, dem erotisch poussierenden Lehrer Dominik und Lysander von Anne Haug, der unvergleichlichen Cordula der Lehrerschaft mit empathischen Overdrive gespielt wird, ist mehr als nur eines der inzwischen häufig selbstreferentiellen Gender-Konnotationen.

Wohin mit unseren Träumen, wenn die Welt so ist, wie sie ist? Mehr Mut zu Zuversicht und Hoffnung scheint der rauschhafte Applaus nach 150 Minuten rasantem Non-stop-Theater mit psychologischem Tiefgang zu fordern. Und so erwacht auch Patrick, der nicht in Schwermut versunken war, aus seinem Traum. Er feiert das Leben.

24.05.24

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Der Kreislauf des Lebens

Geborenwerden und Sterbenmüssen ist das unabänderliche Gesetz des menschlichen Lebens. Es erstreckt sich vom ersten Laut eines Neugeborenen bis zum letzten Atemzug für eine bestimmte, subjektiv unbestimmte Zeit. Religionen haben mit ihren Riten von Hoffnung und Trauer moralisch kulturelle, ethische Haltelinien festgeschrieben.

Den Gestorbenen wird von der religiösen Gemeinschaft in einer Messe in Form eines musikalischen Requiems gedacht. Wolfgang Amadeus Mozart hat seine Missa pro defunctis nicht vollenden können. Das Requiem, 1791 auf den Tod einer österreichischen Gräfin konzipiert, wird zu seiner eigenen Totenmesse. Das Fragment des Werkes wird zum Mythos.

Mozarts Requiem-Fragment ist vielfach final bearbeitet worden. Die Version von Mozarts Schüler Franz Xaver Süssmayr überzeugt den Dirigenten Ivor Bolton in besonderem Maße. Sie ist auch die musikalische Grundlage für die Aufführung mit ihm am Pult des Sinfonieorchester Basel. Die Bezeichnung Requiem Oper, mit der die Messe am Theater Basel aufgeführt wird, assoziiert eine erweiterte Perspektive.

Romeo Castellucci verbindet in seiner Interpretation Musik, Tanz und Theater in der von ihm gebauten und beleuchteten Bühne sowie mit ebenfalls von ihm entworfenen Kostümen. Er ergänzt das Requiem-Original mit weiteren Mozart-Kompositionen, wie die Maurerische Trauermusik c-Moll KV 90, Motetten- und Kyrie-Adaptionen sowie eine erst in 1990er Jahren entdeckte Amen-Fuge. Gregorianische Gesänge zum Auftakt und zum Finale rahmen das Requiem. Sie rekurrieren die Anfänge von Kirchenmusik.

Neben professionellen Tänzern dominiert der Chor des Theater Basel gesanglich und tänzerisch total. Von Michael Clark hervorragend eingestimmt, formt die Choreographin Evelin Facchini den Chor zu einer singenden Ballett-Compagnie. Singen und Tanzen als künstlerisches Credo einer Universalität der Künste finden in dieser Requiem-Performance einen sinnfällig überzeugenden Ausdruck.

Nicht die Gesangssolisten – Alfheiour Erla Guomundsdottir, Jasmin Etezadzadeh, Ronan Caillet, André Morsch professionell routiniert -, sondern der Chor und das von Bolton hochmotivierte, klangfüllig spielende Sinfonieorchester Basel sind die künstlerischen Hauptdarsteller. Nicht zu vergessen der außergewöhnlich tonsicher singende Knabensopran Eugen Vonder Mühll (Knabenkantorei Basel).

Die Inszenierung von Castellucci ist nicht nur eine Erzählung über die Allmacht des Todes, gegen welche die Menschen machtlos sind. Sie folgt konzeptionell einem Fading out: Leben als Ursprung aller denkbaren menschlichen Schönheit. Die Geschichte des Planeten Erde ist auch eine Geschichte vom Verschwinden des Schönen einer ehemaligen Vielfalt von Pflanzen-, Tier- und Kulturwelt. Und eine vom Verschwinden des Ichs in seiner ontologischen Selbstbestimmung. Als eine kulturelle und moralisch maßlose Selbstkasteiung der Menschheit, die heute mehr denn je dazu führt, sich selbst zu vernichten.

Requiem Oper reflektiert diesen Lebenskreislauf in der Dramaturgie von Piersandra  di Matteo mit einem verhaltenem Optimismus. Im Halbdunkel steht eine alte Frau rauchend vor einem Fernsehgerät. Beliebiges Wort-Talk-Geraune ist zu hören. Sie schaltet es aus, legt sich ins Bett. Wacht nicht mehr auf. Mit dem Graduale Christus factus est beginnt das Requiem als Performance.

Das schwarz abgedeckte Bett wird von der Bühne getragen. Eine junge Frau fällt heraus und betritt das Leben neu. Die Bühne getaucht in helles Licht. Mit Beginn der Requiem-Sequenzen werden Listen von ausgestorbenen Pflanzen, Tieren und Sprachen, von vernichteten Kulturen und Orten eingeblendet. Menetekel des schleichenden Untergangs. Vorgeführt in einer theatralischen Revue. Regenbogenfarben gesprühte Wände, vor denen ein junges Mädchen in einer Art mythischer Opferungsrituale mit den von Generationen vernichteten und zerstörten symbolischen Resten einer gehabten Zivilisation beladen wird.

Die Choristen, kostümiert als eine Vielvölker-Weltgemeinschaft, flechten an einem Maibaum bunte Bänder zu einem Zopf. Metaphorisch übersetzt als das Band einer Gemeinsamkeit. Irgendwann geben sie auf. Unfertig wird der Maibaum von der Bühne getragen. Vor einem verbeulten Auto, symbolisch aufgeladenes skulpturales Objekt für die Umweltzerstörung, posieren jene als erstarrte Lebewesen à la tableaux vivants.

Nach dem vom Knabentenor innig gesungenen Antiphon In paradisum kippt die Bühne in die Senkrechte. Der dort gelagerte Zivilisationsmüll, die von den Wänden gerissenen, bunt phantasierten Zukunftshoffnungen sowie die Kleider, deren sich die Choristen zuvor im Dämmern der Zivilisation entledigt haben, rutschen ab. Ödes Niemandsland projiziert das Datum der Aufführung 17.Mai 2024 wie eine apokalyptisch tickende Zeit-Epistel.

Dem Ende wohnt nach Castellucci immer auch ein neuer Anfang inne. Die alte und die junge Frau sowie eine Frau mit einem Neugeborenen auf dem Arm betreten die Bühne. Das Baby wird in einer Decke vorsichtig vor der Resterampe abgelegt. Schmatzend und strampelnd ein Neuanfang, ein neuer Versuch, eine Hoffnung.

Dass auch für die Generation der Schuldigen noch nicht alles vergebens sein muss, wird mit einem Happy Birthday für Ivor Bolton ausgedrückt. Er hat an diesem Tag Geburtstag.

19.05.24

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Zwischen Nacht und Sonnenaufgang

Für eine stabile, verlässliche Partnerschaft sind Momente von Abschied, dem schon die Freude auf eine Wiederkehr eingeschrieben ist, wesentliche Garantien. Ähnliches gilt auch für ausgewählte Klassikkonzerte. Das letzte Abo-Konzert (Saison 2023/24) des Sinfonieorchesters Basel möge als Beispiel dafür angesehen werden.

Vor zwei Monaten interpretiert Allan Clayton mit dem Aurora Orchestra im Konzerthaus Dortmund die Winterreise von und nach Franz Schubert (Wandern mit Schuberts Winterreise vom 26.03.24). 1827 von ihm als ein Zyklus schauerlicher Lieder, wie er sie seinen Freunden ankündigte, komponiert, interpretiert Hans Zender 1993, beinahe 150 Jahre später, den legendären Liederzyklus Die Winterreise als eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. Im Stadtcasino Basel gibt es im Konzert Serenade für Tenor, Horn und Streicher, op. 31 (1943) von Benjamin Britten ein Wiedersehen mit Allan Clayton, respektive ein Wiederhören.

Mit dem anderen Solisten des Abends, dem Hornisten Zoltán Mácsai wird es in wenigen Tagen ein Wiedersehen beim Konzert der Sächsischen Staatskapelle in der Philharmonie Essen geben. Er ist der Solohornist des Orchesters. In Basel sind Clayton und Mácsai in Brittens Serenade hoch motivierte musikalische Partner zusammen mit Ivor Bolton (seit 2016/17 Chefdirigent des Sinfonieorchester Basel).

In den sechs Liedkompositionen des 15. bis 19.Jahrhunderts, eingerahmt von Naturhorn-Soli Prolog und Epilog (hinter der geöffneten Saaltür aus dem Foyer gespielt), scheint der Kanonendonner des 2. Weltkriegs noch nachzuhallen. Vom Sonnenuntergang im Pastoral The Evening Quatrains (nach Charles Cotton) – The day’s grown old; the fainting sun… – durchmisst die Lyrik das gesamte Spektrum von Nacht und Dunkelheit. Claytons charaktervoller, die Gefühls- und Angstassoziationen empathisch auslotender Tenor klangmalt in feinsinniger Abstimmung mit Bolton und dem Orchester sowie im Wechsel mit mit Mácsai.

Die beiden Solisten weben dialogisch wie solistisch poetische Klanglandschaften zwischen Melancholie, Trauer und dramatischem Furor. In Elegy, The Sick Rose (nach William Blake) kulminiert Claytons Gesang mit schmerzlich lyrischem Klageton: O Rose, thou art sick; the invisible worm…

Brittens Schattierungen der Nacht steht im zweiten Teil des Konzerts der Sonnenaufgang in der Sinfonie Nr. 7 E-Dur, WAB 107 (1883) von Anton Bruckner gegenüber. Und doch gemeinsam mit Vitamin B verbunden, wie das Konzertprogramm titelt. Bolton zieht mit seinem Bruckner-Dirigat einen weiten Bogen vom Gewandhausorchester Leipzig, mit dem Arthur Nikisch 1884 die Uraufführung der Sinfonie leitete, über Hermann Levi, der sie wenige Monate später in München aufführte, bis zum Bruckner-Revival in den 1980er Jahren mit dem damaligen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur.

Mit Masur in ähnlicher, Gegensätze kräftig konturierender Unmittelbarkeit führt Bolton das Sinfonieorchester Basel in einen Bruckner-Kosmos der Gegensätze. Er erkundet ihn mit gestisch körperlichem Einsatz. Energisch bis in die sich immer wieder spitzenden, wie mit einem Degen zustechenden Zeigefinger, fordert er das Orchester. Mitunter wäre weniger mehr.

Deutlich hörbar, dass die Akustik des Stadtcasinos Bruckners Komposition für grosses Orchester mit den Wagner-Tuben vor allem in den akzentuierten Generalpausen nicht ganz gerecht wird. Überhaupt Wagner, der lugt immer wieder um die Ecke. Die Todverkündigungsszene aus der Walküre schimmert unverkennbar als Vorbild in dieser Trauermusik mit.

Im Adagio hat Bruckner spontan auf die Nachricht von Wagners Tod mit einer kompositorischen Erweiterung mit Wagnertuben und Hörnern reagiert. Dieses Adagio wird ihm zu einer Hommage: Zum Andenken meines unerreichbaren Ideales in jener so bitteren Trauerzeit.

Bruckners Sinfonien sind häufig mit der himmelsstrebenden Hoheit gotischer Kathedralen verglichen worden. Das Stadtcasino Basel ist nichts weniger als eine Kathedrale. Bolton interpretiert die Siebte gleichwohl mit einer ähnlichen Grossmächtigkeit. Harmonik wie auch melodische Gesten sind die Nähe zu Wagner nicht abzustreiten. Gemeinsam ist ihnen das religiös konnotierte Erlösungsthema.

Bruckners streng katholische Frömmigkeit, die sich in seiner Sinfonie ausdrückt, assoziiert mystische Erfahrungen, die auch Wagners Gesamtkunstwerk zugrunde liegen. Bolton kontrastiert in seiner Interpretation die Unterschiede. Und erfindet mit dem Sinfonieorchester Basel einen ausserordentlich authentischen Bruckner-Klang.

18.05.24

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Bill Frisell Trio interaktiv im Ebertbad

Bill Frisell ist mit seinem langjährigen Trio im Ebertbad in Oberhausen zu Gast – nach dem John Scofield Trio (Scofield zu Hause in Oberhausen vom 26.03.24) sowie dem Dave Holland Trio (Ohne Wenn und Aber vom 11.04.24) in diesem Frühjahr ein weiteres Jazz-Highlight. Überraschend bleiben die letzten drei Reihen unbesetzt. Frisells Standing in der Szene ist spätestens mit dem Dokumentarfilm Bill Frisell: A Portrait (2017) von Emma Franz schon jetzt eine Jazz-Monument.

Der über Jahrzehnte zu einer Gitarrenlegende gereifte Frisell (Jahrgang 1951) hat mit dem Bassisten Thomas Morgan (Jahrgang 1981) und dem Drummer Rudy Royston (Jahrgang 1971) ein exorbitantes Trio-Spiel entwickelt. Obwohl verschiedenen Generationen angehörend, sind sie Partner mit- und füreinander. Sie sind musikalisch flexibel und spontan genug, sowohl Frisell als auch jedem einzelnen von ihnen zu folgen. Ein Triospiel, das in vielen Konzertauftritten eine unverwechselbare Authentizität entwickelt hat. Bekannte Frisell-Kompositionen sowie populäre Folk- und Standard-Titel werden mit akzentuierten Akkordbrechungen überraschend rekonstruiert.

Auf Augenhöhe finden sie sich im Ebertbad zu einem interaktiven Grooven zusammen. Soundlinien von jetzt auf gleich verlangsamend oder beschleunigend. Auffrischende Phrasierungen setzen Reflexionspunkte, so als würde während eines Gesprächs ein neuer Gedanke plötzlich aufblitzen, der mitgeteilt sein will. Frisells geschmeidig betonte, mit Eleganz von Morgan und Royston kommunizierte Gitarrenläufe messen ein musikalisches Terrain aus, das sich mitunter in selbstreferentieller Verliebtheit gefällt.

Solche Kipppunkt-Momente sind für Morgan und Royston unmittelbare Anlässe, die vom Gitarristen dominierten Gesprächslinien umzubiegen. Dass das nicht wider Frisell geschieht, sondern von ihm mit zustimmenden Lächeln goutiert wird, lässt sich in Folge eines Drum-Solos ablesen. Roysten trommelt überwiegend mit geschlossenen Augen, gleichwohl mit wachem Rhythmusgefühl für den relevanten Beat-Kontrast. Nur mit wenigen Augenaufschlägen vergewissert er sich, wohin Frisell gerade unterwegs ist.

Währenddessen lauscht Morgan in der Haltung eines aufmerksamen Schülers, der nichts verpassen will. Der Bass ruht in der linken Hand. Die Rechte schwebt über den Saiten – und greift akkurat in sie, nimmt Roystons Akkord-Arabesken an. Schleicht sich in sie gleichsam hinein, um selbst die Improvisation zu zelebrieren. Morgans Solo interagiert farbenfroh mit Frisells Akkordtönen. Ausdruck einer tiefen musikalischen Beziehung, die ebenso zutiefst lyrisch wie abenteuerlich ist. Wenn Thomas mit mir spielt, ist es, als würde er eine Zeitreise unternehmen….Rudy ist auch erstaunlich präsent…Sein ganzes Wesen steckt in der Musik, schwärmt Frisell.

Im Oberhausener Konzert entlädt sich eine kommunikative Energie, die originär wie originell klingt. Es scheint, als stecke hinter jedem Impact der Sets eine Botschaft. In Variationen jene von untilgbarer Zuversicht getragene: We Shall Overcome.

15.05.24
photo streaming Bill Frisell Trio

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Geschichte des Blutwursttages

Recklinghausen und Mülheim an der Ruhr sind seit Jahrzehnten im Mai Orte, wo Schauspielkunst exemplarisch bewundert werden kann. In diesem Jahr vor allem solistische Frauenpower der Extraklasse. Wenige Tage nach dem Laios von Lina Beckmann bei den Mülheimer Theatertagen (Laios – Beckmanns grandiose Solo-Performance vom 10.05.24) wirft bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen Stefanie Reinsperger mit ihrer berserkerhaften Darstellung des Psychopathen Bruscon in Der Theatermacher sozusagen den Fehdehandschuh in den Ring.  Beide gehen als triumphale Siegerinnen aus diesem hervor.

Der Weg des Stücks Der Theatermacher von Thomas Bernhard, 1985 bei den Salzburger Festspielen in der Regie von Claus Peymann uraufgeführt, führt via Berliner Ensemble zurück in die Gegenwart. In der Kontinuität vom Salzburger, respektive Wiener Peymann (1986–1999 Direktor des Burgtheaters Wien) und seiner BE-Intendanz (1999-2017) misst die Neuinszenierung von Oliver Reese (seit 2017 Nachfolger von Peymann in Berlin) eine Zeit von 40 Jahren aus. Angesichts der in vielen Ländern zu beobachtenden Akzeptanz nationalistisch extremistischer Gesinnungen bis in die Mitte bürgerlich demokratischer Gesellschaften ist Bernhards wohl berühmtestes Stück so aktuell wie je zuvor.

Der Kampfplatz Theater als absurde Erfindung eines Irrenhauses bedeutet nach Thomas Bernhard nichts weniger als eine lebenslange Selbstgefangennahme. Leben ist vom Schauspielen nicht mehr unterscheidbar. Leidenschaft, exzessiv erlebt und gefühlt, verkörpert die von der Kritik als BE-Starschauspielerin bejubelte Stefanie Reinsperger bis in ihre Zehenspitzen, begleitet von Urlauten und Wahnsinns-Schreien. BrusconIch bin der größte Schauspieler aller Zeiten! – charakterisiert sie als einen alle moralisch ethischen sowie ästhetischen Maßstäbe hemmungslos entgrenzenden, psychopathischen Wüterich.

Die Bühne, ein verrottet brüchiger Schuppen, eine Resterampe von Schützenfesten, von abgestellten, nationalsozialistisch in Ehren gehaltenen Militaria-Helden-Bildnissen: Was hier, in dieser muffigen Atmosphäre, als ob ich es geahnt hätte. In diesem gottverlassenen Utzbach, würgt Rheinsperger den Ortsnamen kauderwelschend, nahe an einem Erstickungsanfall, soll Das Rad der Geschichte gedreht werden. Hier, in dieser schwül warmen Bruchbude, wo jeden Dienstag Blutwursttag ist, wo es nur Schweinemastanstalten, Kirche und Nazis gibt, soll die großartigste Menschheitskomödie des Staatsschauspielers Bruscon ihren Laufnehmen.Hier nimmt auch Bernhards Abrechnung mit seinem verhassten Österreich sein Lauf. In Utzbach, in Recklinghausen.

Rheinsperger beklagt, zwischenzeitlich larmoyant narzisstisch in Selbstverliebtheit wehklagend, mit sich steigernden Schreikaskaden die Vergeblichkeit der Kunst in einer verkommenen, noch immer nationalsozialistisch schwärmerisch umflorten, grundsätzlich dummen Gemeinschaft. Die hohe Schauspielkunst bricht wie ein Kartenhaus zusammen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Von nichts weniger überzeugt, als eine Komödie, die alle bisherigen Komödien enthält, geschrieben zu haben, tritt Bruscon wie der elaborierte Elefant im Theater-Porzellanladen alles nieder.

Er, dem alle und alles in seinem Machtphantasien als Staatsschauspieler ungenügend scheint, spielt selbst alle Hauptrollen: Kierkegaard, Cäsar, Metternich, Hitler. Außer ihm – alle talentlos und ungeeignet. Er randaliert gegen die von ihm ausgemachten Anti-Talente seiner Frau – Dein einziger Reiz, ist dein Reizhusten (Christine Schönfeld, reduziert auf Husten-Varianten), seines angeblich körper- und hirnversehrten Sohnes Ferrucchio sowie seiner angeblich strohdummen Tochter Sarah. Adrian Grünewald und Dana Herfurth sowie der Bruscon meistens stumm betrachtende Wirt (Wolfgang Michael) funktionieren in diesem Bernhard-Tableau mehr oder weniger nur als Stichwortgeber für die nächste Tirade des Berserkers.

Das Spiel Rheinspergers entwickelt einen faszinierenden wie gleichzeitig beängstigenden Sog widerstreitender Emotionen. Frauen machen nur Theater. Männer sind das Theater. Sie geht bis an ihre physischen sowie an die Grenzen ihrer sprachlichen Lamentos. Das Zuschauen suggeriert eine Vorstellung von der Bösartigkeit von Despoten und Machthabern aller politischen Couleurs in der Menschheitsgeschichte, denen es immer wieder bis zum heutigen Tag gelingt, Menschen für die eigenen Wahnvorstellungen einzufangen, sie in Geiselhaft ihres Wahnsinns zu nehmen.

Selbst der Feuerwehrhauptmann und Handwerker – einer, der es versteht Fässer zu binden – ist nicht ohne weiteres bereit, das von Bruscon als den Ernstfall für den Erfolg seines Stückes geforderte Abschalten des Bühnennotlichts für fünf Minuten zu akzeptieren. Es sei nicht rechtens, eher brenne die Feuerwehr selbst ab, bevor sie zum Einsatz kommt.

Die Bühne (Hannsjörg Hartung) entblättert sich als Staffage. Selbst die Live-Musik (Ralf Schwarz & Co) schafft nur noch ein erstickendes Ausatmen. Das in die Bühnenarchitektur einbrechende Gewitter spült den Theatermacher-Hero als Popanz hinweg. Der Tisch, auf dem die unabkömmliche Frittatensuppe während jeder Tournee durch die Provinz serviert werden sollte, liegt nach einem desaströsen  Kunst-Wütens Bruscons als unbrauchbarer Restmüll herum. Die leeren Plastik-Sitzmöbel hinter dem roten Vorhang der Bühne auf der Bühne bleiben unbesetzt. Lieber Wetterkapriolen bestaunen als skandalisiertes Theaterspektakel in Ratlosigkeit erleben.

Auf der anderen Seite, im Parkett des Festspielhauses, bricht Jubel aus. Stefanie Rheinsperger ist die konkurrenzlose, strahlende Königin in diesem Ring an diesem Ort in Recklinghausen.

15.05.24

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Laios – Beckmanns grandiose Solo-Performance

Das Theaterprojekt Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben von Roland Schimmelpfennig in der Uraufführung des DeutschenSchauspielHauses Hamburg bewegt, erregt und verwirrt den Kopf und das Herz mit einer energetisch aufgeladenen Intensität kollektiver und solistischer Schauspielkunst (Anthropolis: Wer sind wir? vom 25.11.23).

Aufgeblättert in der Reihenfolge – Prolog/Dionysos – Laios – Ödipus – Jokaste – Antigone -, spannt die Inszenierung einen Bogen über mehr als 2.400 Jahren Zivilisationsgeschichte. Für die 49. Mülheimer Theatertage, die der seit Jahren wichtigsten Präsentation der besten neuen deutschsprachigen Stücke, haben die Juroren aus der Anthropolis-Penthalogie den Solitär Laios ausgewählt.

Laios geriert sich zu einem atemberaubenden Solo-Abend mit Lina Beckmann – neben dem tragischen König Laios ist sie auch Kreon, der Bruder von Jokaste als auch der antike Chor. Ihre Anverwandlung der einzelnen Charaktere entwickelt sich zu einem solistischen Parforceritt mit grotesken Untertönen. Im Publikumsgespräch nach der Aufführung betont Schimmelpfennig, dass dieser Laios-Text als Solo-Performance seiner Überzeugung von einem unzerstörbaren Theater am meisten gerecht wird.

Die Entstehungsgeschichte von Anthropolis ist vielleicht die direkteste, teilweise prophetisch unfassbarste Reflexion auf den pandemiebedingten Lockdown. Der offene Lebensraum Stadt wird im Frühjahr 2020 geschlossen. Diese bisher in der Gegenwart nicht gekannte (gelebte), übermächtige Wirklichkeit, erinnert sich die Dramaturgin Sybille Meier, rückt in Gesprächen Schimmelpfennigs mit der Regisseurin Karin Beier und dem Bühnenbildner Johannes Schütz die Geschichte der griechischen Polis in den Mittelpunkt.

Schimmelpfennig überträgt den Mythos von der Gründung der Stadt zum Ausgangspunkt der europäischen Zivilisation in assoziativer Anlehnung an Erzählungen und Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Dramaturgie der griechischen Tragödie mit ihrer Divergenz von Gott und Mensch, die sich auf Natur/Tier und Mensch verschiebt, entwickelt sich in Schimmelpfennigs Text zu einer aktualisierten Geschichte der Menschheit heute. In bisher nie gekannten Dimensionen hat sie in Verantwortung für einen Lebensraum für alle, für Tiere, Pflanzen und letztlich für sich selbst Schuld auf sich geladen.

Die griechische Mythologie mit ihrer blindwütigen, lernblinden Abfolge von Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau, neuerlicher Zerstörung, bis in die Gegenwart (Überfall Russlands auf die  Ukraine sowie die militärisch politische, von der Hamas instrumentalisierte Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern) geht immer weiter so, erzählt Schimmelpfennig mit einem reduzierten Sprachrhythmus. Objektiv-Reihungen, in denen sich das Subjekt als ein Ich-Wir-Palimpsest entziffert.

Laios, gequält von dem Orakel (hör auf, hör auf, hör auf, wann hört das auf, es hört nicht auf), das ihm einen inzestuös mordenden Sohn, Ödipus ankündigt, halluziniert eine Katze am Himmel. Die Katze ist eine Frau mit einem grün schillernden Kleid, wie es Europa trug, als der Stier sie im Prolog entführte. Dieser Laios schreit mit Beckmann verzweifelt und vergebens nach Erlösung. Das nimmt einfach kein Ende….von nun an singt das Ding am Himmel, die Katze, in den Köpfen aller Menschen in der Stadt, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Beckmann transformiert mit ihrem Spiel Schimmelpfennigs Sprachtext zu einem konvulsivisch mäandrierenden Hörerlebnis. Im Publikumsgespräch gefragt, wie sie sich in und durch diese Text-Collage orientiert, denkt sie kurz nach und lacht: Auf Zack sein – und einfach machen…

In 90 Minuten meistert sie berserkerhaft und poetisch zugleich steile Berghänge, taucht in tiefe Flüsse ein, verweilt in rauschhaft stillen Ebenen. Changierend zwischen Erzählerin, Chor der Thebaner, Laios, dem von sich selbst überraschten König, Jokaste, die wie nebenbei seine Frau und Königin wird, spannt Beckmann einen mythischen Bilderbogen, der in Kreisbewegungen immer wieder zum Anfang zurückkehrt: Eine schmale, staubige Straße, weit entfernt, die Stadt….auf der Straße ein Mann, ein Mann auf einem Wagen….Am Himmel keine einzige Wolke. Ein Vogel. Das retardierende Moment, dass es kein Vogel, sondern eine Katze, eine Frau ist, assoziiert ein Menetekel ganz von dieser Welt.

Schimmelpfennigs am Ende in der zum Prolog identischen Textzeile räsoniert in Beiers Inszenierung Laios Angst wie im Angessicht eines Damoklesschwertes: Bist du das? Beckmann geht in ihre Ausgangsposition zur hinteren Bühnenwand. Lautstarker Applaus holt sie in den Vordergrund zurück. Solo einer Schauspielerin in ihrer eigenen Liga!

10.05.24

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Please touch! – Do not touch?

Es sind gegensätzliche Wahrnehmungen, die den Ausstellungen Tony Cragg. Please touch! und Size Matters. Größe in der Fotografie im Kunstpalast Düsseldorf Raum geben. Während in der Cragg-Schau das in Kunstausstellungen weltweit übliche, beinahe programmatische Verbot – Die Kunstwerke nicht berühren! – aufgehoben ist, wird es wenige Meter entfernt im selbigen Haus eine Etage tiefer bei Size Matters wieder in Kraft gesetzt.

Einerseits ist der Kunstpalast stolz auf die Einrichtung einer ersten umfangreichen Präsentation in einem Museum, in der sämtliche Bildwerke ertastet und erfühlt werden dürfen. Andererseits gilt nebenan wieder Please, Do not touch. Konsequent auch für zwei Cragg-Skulpturen, die sich in die formatierten Größenverschiebungen der ausgestellten Fotografien eingeschlichen zu haben scheinen. Ebenso ist ehrfurchtsvoller Abstand vor einem Stapel privater (?), festverschnürter Fotoalben geboten.

Dass für Cragg die Wahrnehmung seiner Arbeiten eine immens sinnliche, existentielle ist, lässt sich in der Ausstellung vielfach beobachten. Eine Gruppe älterer Damen stimmt darin überein, dass in den aus Holz gefertigten Arbeiten eine angenehme Wärme zu spüren ist. Das mache sie zugänglicher, auch sympathischer, als würde man einen Bekannten freudig begrüßen und umarmen. Das tun tatsächlich viele Ausstellungsbesucher. Es ist, als würde das hölzerne Please touch! gegenüber der unmittelbar erfahrenen Kühle von Glas und Stahl eine Sehnsucht erfüllen, die mit dieser Unmittelbarkeit ansonsten auf Distanz der visuellen oder auditiven Wahrnehmung reduziert ist.

Please touch!ist ein Renner, ein Publikumsmagnet, der wenige Wochen vor dem Ausstellungsende schon mehr als 100.000 Besucher angezogen hat. Eine Relevanz der öffentlichen Zustimmung, die ansonsten nur entsprechend kalkulierte und gehypte Blockbuster-Ausstellungen für sich in Anspruch nehmen können. Die Botschaft einer Teilhabe des Publikums mit allen Sinnen in einer Kunstausstellung ist offensichtlich. Und dass sie schnell an ihre Grenzen, auch die des Eigentumsrechts von vor allem privaten Sammlern stoßen kann.

Dabei ist anzumerken (und anzuerkennen), dass eine Konkurrenz öffentlich geförderter Häuser mit ihrem vergleichsweise bescheidenen Ankaufsbudget nicht wirklich gegeben ist. Ihr Kapital sind die häufig über mehr als 100 Jahre gesammelten Werke aus finanziell besseren Zeiten und Donationen. Von daher verbieten konservatorische Gründe, respektive Werterhaltung für Bereitstellung und gegenseitigen Austausch für Ausstellungen eine generelle Freigabe.

Nichtsdestotrotz ist nach dieser für den Besucher umfassend wahrnehmbaren Ausstellungserfahrung die Frage nach Kommunikation und Interaktion zwischen Kunstwerk, Ausstellungsort und den Bedürfnissen der Besucher, mit diesem Perspektivenwechsel geradezu provoziert, mehr in den Blickpunkt geraten als bisher.

In dem die Ausstellung begleitenden Interview sind sich Generaldirektor Felix Krämer und Cragg anfänglich einig. Durch Berührung werden die Arbeiten nicht besser. Eigentlich… Für Cragg selbst spielt dieser Aspekt bei der Arbeit an seinen Werken keine Rolle. Wie sich das anfühlt? So denke ich nicht. Mir ist die visuelle Wahrnehmung das Eigentliche….Dass Menschen (Sammler) mit meinen Arbeiten leben wollen, ist schon verrückt.

Verrückt geht auch, wie in Size Matters zu erfahren ist, ganz anders. Maßstäbe im fotografischen Bearbeitungsprozess zu verrücken, kann man als Sinnbild verrückter Bedeutungsverschiebungen verstehen. Was groß und was klein, was richtig und was falsch ist, öffnet variable Sehräume. Das Authentische misst sich mit Momenten von Reflexion und Assoziation. Die Formate der Bildrezeption spielen verrückt. Absichtsvoll keine Dokumentation einer Realität, die letztlich nur subjektiv sein kann und damit allein für den Fotografierenden in diesem einen Moment seine Realität sein kann. Die Realität in der Kunst ist die Imagination.

Size Matters bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Dinge der Weltwahrnehmung im Großen wie im Kleinen als eine Befreiung von einer suggerierten Eindeutigkeit zu sehen. Denn, diese gibt es nicht. Kontrolle über die Dinge haben zu wollen, ist vielleicht das größte Missverständnis einer sich aufgeklärt gebenden Gesellschaft.

09.05.24
photo streaming Tony Cragg

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Lichter in der Nacht

Fred Hersch – Silent.Listening © ECM 2024

Silent. Listening, bei ECM veröffentlicht, kann man wie eine Selbstbeschreibung des Pianisten Fred Hersch lesen. Seit Jahren einer der interessantesten Jazz-Pianisten weltweit, ist er kein lärmender Lautsprecher. Schweigen, zuhören, in sich hinein lauschen. Softly, As In A Morning Sunrise gestimmt, schlägt er mit dem so titelnden, vorletzten Song einen kreativ hoffnungsvollen Bogen zurück zum ersten mit Star-Crossed Lovers.

Hersch versichert nicht nur den vom Unglück verfolgten Liebenden auch in dunklen Zeiten einen poetisch klangmalenden Hoffnungsschimmer. Licht durchflutet die Nacht mit impressionistischen Facetten (Night Tide Light). Er versteht Silent.Listening programmatisch als ein musikalisches Statement von Anfang bis Ende. Seine Improvisationen lauschen als Storytelling music in die Nacht. Den Blick zum Himmel gewendet, lädt seine Musik ein, mit ihm zu wagen, nach den Sternen zu greifen (Starlight).

Spontan komponierte Strukturen assoziieren kontrapunktisch gebaute Klangräume. Eine Meditation in zeitgenössischen Klangwelten vornehmlich mit eigenen Kompositionen. Standards durchmischen in freien Improvisationen die Tracks. Sie weisen ins Offene, ins Unvorhersehbare, ins Fließende: Panta rhei. Ein Handeln wider besseres Wissen absichtsvoll wie in Akrasia zu thematisieren, gehört zu Herschs musikalischem Selbstverständnis. Nichts unbedingt bis ins kleinste Detail kontrollieren zu wollen. Vielmehr gleich den Aeonen der antiken Philosophie den Klängen ihre spirituelle Essenz abzugewinnen (Aeon).

Die schon für die ECM-Produktion The Song Is You mit Enrico Rava (2021) verantwortliche großartige Akustik des Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano war auch für diese Solo-Aufnahme sein absoluter Wunschkandidat. Sie ist, so Hersch, in meinen Ohren nahezu perfekt. Eine Perfektion, die keiner Geste als missverstandene L’art pour l’art nachläuft. Mit Little Song, ursprünglich für das Duo mit Rava geschrieben, löst er ein Selbstverssprechen ein. Mehr vom Inneren des Klaviers herausspielen, nennt es Hersch.

Inwieweit die Hörer dieser CD seinen finalen Winter Of My Discontent wörtlich nehmen, mögen sie als Hörende selbst herausfinden: Silent.Listening.

08.05.2025

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Fado – Ausfahrt Bottrop, A 42

Boa noite! Que bom que você veio hoje! Ich freue mich, wieder im Ruhrgebiet zu sein. Ausfahrt Bottrop, A 42. Temperatmentvoll entert Telmo Pires, einer der wenigen männlichen Vertreter der zeitgenössischen Fado-Szene, die Bühne des Ebertbads in Oberhausen. Mit Rui Poço (Portugiesische Gitarre), Miguel Silva (Klassische Gitarre) und Yami Aloelela (E-Bass) folgt er in mehr als zwei Stunden seiner Fado-Spur: Através do Fado. 1952 in Nord-Portugal geboren, zieht seine Familie wenige Jahre später ins Ruhrgebiet. Er wächst dort zweisprachig auf. Macht am Heinrich-Heine-Gymnasium in Bottrop das Abitur. Gesangs- und Schauspielausbildung führen ihn zu seinen portugiesischen Wurzeln zurück. Dem Fado, einer über Jahrhunderte gewachsene Kultur, einem Lebensgefühl, getragen von arabischen Elementen, vielen Tonhöhensprüngen, bevorzugt in Moll, widmet er sich als Fadista mit Überzeugung.

Dass der Fado mehr ist als nur wehmütige Klage, die sich im Weltschmerz (Saudade) verzehrt, unterstreicht er mit kulturell konnotierten Reflexionen, einleitend und zwischen seinen Gesängen mit Emphase. Fado zu singen bedeutet für ihn im heutigen Sinne, ein soziales Medium zu bedienen und zu nutzen. Pires Liedtexte setzen Beziehung zu den Lebensbedingungen in der portugiesischen Diktatur, die von 1932 bis 1974 andauerte. Wenige Tage vor dem Konzert wurde die Erinnerung an die Befreiung von ihr vor 50 Jahren durch die inzwischen zu einem charismatisch aufgeladenen Symbol gewordene Nelkenrevolution zu einem die Gesellschaft beherrschenden Gefühl.

Eine Diktatur kann vieles verbieten, allein die Liebe nicht. Der Fado wurde für die vielen Analphabeten so während dieser Zwangsherrschaft zu einer Zeitung. Sie konnten sie nicht lesen, aber hören, singen und tanzen. Ich komme nicht aus dem Fado, beteuert Pires. Der Fado ist mit seiner Mutter, vor allem mit seiner Großmutter zu ihm zurückgekommen. Mit Morena singt er eine Hommage an sie und ein Bekenntnis zur Kraft des Fado überhaupt.

Mutter, ich besinge die Nacht, weil mich der Tag enttäuscht. Das Schicksalhafte des Fado prägt seine Performance von Gesang, Tanz und Erzählung. Wie seinen Müttern ist er dem großartigen Lehrmeister und Fadista Carlos do Carmo (1939-2021) verpflichtet. Fado, Credo und Plädoyer für ein freies Leben und unbedingte Liebe, zelebriert Pires kultiviert und sportiv zugleich. Klug in der Reflexion der kulturellen Kontexte, geschmeidig biegsam in seiner männlichen Körperhaftigkeit.

Pires zieht die Zuhörer – Die überwiegende Mehrheit sind Zuhörerinnen! – nicht nur mit seinem authentischen Gesang in den Bann. Es sind mitunter Anekdoten, die mit Witz und Ironie spielen, aber einen Kern freilegen, als würde man einen Apfel schälen. Dass in deutschen Supermärkten das Sortiment an portugiesischen Weinen eher klein ist, hat, so Pires, einen einfachen Grund: Wir exportieren wenig. Wir trinken ihn selbst. Somit gut gelaunt, singt man traurige Lieder.

Die dem Fado eigene Traurigkeitsmelodik grundiert entsprechend Pires‘ Gesang. Gleichzeitig überwiegt in ihm die Hoffnung, dass Liebe in Frieden alles Begrenzende überwinden kann. Er schüttet Füllhörner von Glückshormonen aus.

Davon könnte es noch mehr geben, wenn die Musiker an seiner Seite mehr die Chance hätten oder einforderten, seine narrative Performance mitzugestalten. Pires‘ Erklärung zu Beginn des Konzerts, sie würden von seinen Erzählungen kein Wort Deutsch verstehen, macht sie zu einer Staffage allein professionell spielender Musiker. Schwer zu sagen, wie sich das für sie anfühlt.

05.05.24
photo streaming Telmo Pires

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