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Was macht die Linke in…Brasilien?
von Tina Botka, Benedict Mayrhofer

Bei den Präsidentschaftswahlen Anfang Oktober in Brasilien stand mit Heloísa Helena erstmals eine Kandidatin zur Wahl, die für eine radikale Kritik am Neoliberalismus steht. Die Aktivistin der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) trat gegen den Präsidenten und ehemaligen Hoffnungsträger der Linken Lula an und erreichte auf Anhieb 6,9 Prozent der Stimmen, berichten Kristina Botka und Benedict Mayrhofer.

Als Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, am 1. Jänner 2003 das Präsidentschaftsamt antrat, galt er als große Hoffnung der Linken, der Armen und Ausgebeuteten Brasiliens. Schließlich war die von ihm geführte ArbeiterInnenpartei PT (Partido dos Trabalhadores) 1979 von GewerkschaftsaktivistInnen, linken Intellektuellen und VertreterInnen sozialer Bewegungen gegründet worden, und Lula selbst hatte sich als Chef der MetallarbeiterInnengewerkschaft den Ruf als kompromissloser Kämpfer erarbeitet. Als Sozialist war er bei breiten Teilen der Bevölkerung angesehen, die Rechte der Arbeitenden und der Armen standen für ihn an oberster Stelle.

Vom linken Hoffnungsträger zum neoliberalen Vorkämpfer

Doch – kaum im Amt – entpuppte sich der sozialistische Hoffnungsträger schnell als neoliberaler Handlanger des Internationalen Währungsfonds (IWF), der ebenso kompromisslos wie früher gegen die Konzerne nun im Interesse des Kapitals den radikalen Umbau der brasilianischen Gesellschaft vorantrieb. Bereits unmittelbar nach seiner Wahl gab Lula zu verstehen, dass er den unter Fernando Henrique Cardoso eingeleiteten neoliberalen Kurs fortsetzen werde. Insbesondere würde er die Verpflichtungen des hochverschuldeten Landes gegenüber dem IWF, d.h. die neoliberalen „Strukturanpassungsprogramme“, anerkennen. Der politische Kurswechsel der PT hatte sich freilich bereits vor den Wahlen 2002 angekündigt. Seit den 1990ern orientierte sich die Partei zunehmend auf die Eroberung der Macht in den Institutionen des brasilianischen Staates. Dabei entfernte sich Lulas Programm immer weiter von den radikalen Wurzeln der PT. Der Kern der neuen Strategie gründete auf der Zusammenarbeit mit Konservativen und Unternehmern zur Wahrung sozialer und ökonomischer Stabilität.1 In Regierungsverantwortung wurde diese Tendenz weitergeführt und verschärft, und die wirtschaftspolitischen Kernressorts sowie das Landwirtschaftsministerium wurden mit neoliberalen Vordenkern besetzt.

Lula versuchte mehr und mehr auch bei Industriellen Sympathie zu erlangen, um für ausländische InvestorInnen „seriös“ zu wirken. Dadurch konnte sich Lula bereits vor den Wahlen die Unterstützung des IWF sichern, der auch bald riesige Kredite an Brasilien vergab. Im Gegenzug versprach Lula die Ausrichtung seiner Politik auf die Erfordernisse des Marktes. Kernprojekt war eine Steuer- und eine Pensionsreform, v.a. zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung und der Armen Brasiliens. Nach nicht einmal einem Jahr hatte Lula damit seine AnhängerInnenschaft zum ersten Mal verraten. 400.000 öffentlich Bedienstete sahen sich gezwungen, gegen die Pensionsreform der Regierung zu streiken.
Wichtige UnterstützerInnen der PT, wie die Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST), mussten ebenso herbe Enttäuschungen erfahren. Die MST stellt in Brasilien, wo die Landkonzentration extrem polarisiert ist, eine wichtige Organisation dar. Rund 10 Prozent der Großgrundbesitzenden gehört etwa 80 Prozent des gesamten Landes, während 4,5 Millionen Bauernfamilien kein eigenes Land besitzen. Im Wahlkampf 2002 hatte Lula noch versprochen, an eine Million dieser Familien Land zu verteilen. Bei Regierungsantritt war schon nur mehr von einer halben Million die Rede, seitdem wird die Zahl immer kleiner, weil der Schuldenabbau für die Regierung höhere Priorität genießt.2 Insgesamt wurde seit 2003 Land an 25.000 Familien pro Jahr verteilt – das ist gerade einmal die Hälfte dessen, was selbst Lulas neoliberaler Vorgänger Cardoso umgesetzt hatte.

Aufgrund dieser Entwicklungen beendete die MST ihre Schonfrist für die Regierung Lula und nahm ihre Proteste und Landbesetzungen wieder auf. Die GroßgrundbesitzerInnen, denen das Land oft nur zu Spekulationszwecken dient, begannen nun ihr Land mit privaten Sicherheitsdiensten, den „Pistoleiros“, militant zu verteidigen. Dabei wurden in den letzten Jahren viele AktivistInnen der MST getötet, doch die Medien kriminalisieren die BesetzerInnen. Auch Lula verurteilte die Landbesetzungen als „illegal“, statt die ungerechten Agrarverhältnisse zu bekämpfen: für viele Millionen Menschen stellt in Brasilien Landbesitz eine Chance dar, dem Leben als TagelöhnerInnen oder städtische Obdachlose zu entfliehen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten. Landbesitz würde für sie ein menschengerechtes Leben bedeuten.3
Die Aufstände der Landlosen sind aber nur ein Teil der Proteste gegen Lulas Politik. Auch Frauenorganisationen, Studierende und einflussreiche linkskatholische Organisationen kritisierten den Regierungskurs. KonsumentInnenschützerInnen protestierten gegen die Erhöhung von Energie- und Telefonkosten, sowie gegen die Schließung freier Radios. Die Linke in Brasilien musste also erfahren, dass sie im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung nicht mehr auf die ArbeiterInnenpartei PT setzen konnte. Lulas Reaktionen auf die Forderungen der Bewegungen klangen bald nicht mehr viel anders als in konservativ regierten Ländern. Die AktivistInnen wurden verhöhnt, als kriminelle GewalttäterInnen bezeichnet und selbst als es zu politischen Morden kam, schritt er nicht ein.4
Auch die in letzter Zeit bekannt gewordenen Korruptionsvorwürfe und die in den letzten Wochen fast täglich neuen Meldungen über Bestechungsgelder an ParlamentarierInnen verstärkten das Misstrauen gegen den Präsidenten. So musste etwa erst am 19. September ein Sonderberater Lulas wegen dem Vorwurf der Schmiergeldzahlung in Höhe von 770.000 US-Dollar zurücktreten, am 24. September folgte ihm Lulas Wahlkampfleiter, er soll auch in den Fall verwickelt sein.

Außenpolitisch hat sich Lula ebenfalls als Handlanger des Kapitals und imperialistischer Großmächte erwiesen. So führen brasilianische Truppen die von der UNO autorisierte Besatzung Haitis an, wo der demokratisch gewählte Präsident Aristide 2004 in einem von den USA und Frankreich gestützten Putsch gestürzt wurde.
Gegenüber der linken Regierung von Evo Morales in Brasiliens Nachbarland Bolivien hat Lula in den letzten Monaten ebenfalls den Druck erhöht, die Nationalisierung des Erdöl und Erdgas abzuschwächen – schließlich wäre der brasilianische Ölkonzern Petrobras einer der Hauptverlierer bei Morales’ Verstaatlichungsprogramm.

Eine Neue Linke

Der langaufgestaute Frust über die Politik Lulas, auch und gerade innerhalb der PT, erforderte die Gründung einer neuen Organisation, die sich wieder den Grundsätzen verschreibt, mit denen Lula gebrochen hat.
AktivistInnen und Abgeordnete aus Lulas PT wie Heloísa Helena, Mitglied der Tendenz Sozialistische Demokratie (DS), Luciana Genro von der Bewegung der sozialistischen Linken (MES) und João Batista Oliveira de Araujo, von der Sozialistischen Arbeiterströmung (CST) konnten die neoliberalen „Reformen“ der PT nicht mehr ertragen. Und sie waren nicht die Einzigen. Wegen ihrer Kritik an Lulas Pensionsreform wurden sie 2003 aus der Partei ausgeschlossen.5 Gemeinsam gründeten sie daraufhin die Partei für Sozialismus und Freiheit PSOL.
Die Mehrheit der PT-Linken setzte aber nach 2003 den Kampf für einen Kurswechsel innerhalb der Partei fort. Sie traten als „regierungstreue Opposition“ für die Erneuerung der PT und die Neuausrichtung der Regierungspolitik ein, fanden sich dadurch jedoch in der widersprüchlichen Situation, zwar anti-neoliberal zu argumentieren, sich aber gleichzeitig hinter Lula und dessen Regierung zu stellen. Dass die innerparteiliche Opposition die Regierungspolitik nicht grundlegend verändern konnte, zeigte sich in den Folgejahren. Seit Bekanntwerden des Korruptionsskandals im Sommer 2005 traten schließlich immer größere Teile der Parteilinken aus der PT aus und schlossen sich der PSOL an.
Im September letzten Jahres schaffte es die PSOL, die notwendigen 438.000 Stimmen zur Anerkennung als wählbare Partei zu sammeln. Es schien, als hätten viele BrasilianerInnen nur darauf gewartet. Schon in den ersten Tagen nach der offiziellen Gründung der neuen linken Partei gab es Meldungen über einige bis dahin sogar führende PT-Mitglieder oder ganze Strömungen (zum Beispiel die sozialistische Einheitsbewegung), welche bisher die PT unterstützt hatten und nun zur PSOL wechselten.6 Auch bekannte linke GewerkschafterInnen, wie aus der Beamtengewerkschaft, linke ChristInnen und viele Einzelne von der PT enttäuschten AktivistInnen, entschlossen sich, die neue Partei zu unterstützen. Es gibt unzählbare Berichte über regionale PT-Gruppen, die geschlossen übertraten, da sie weiterhin, aber in einer vertrauenswürdigeren Partei, für ihre Belange kämpfen wollen. Der Bruch mit Lulas Politik hat ihnen neue Energie gegeben.
Auch außerhalb Brasiliens unterstützen soziale Bewegungen die Entwicklung einer neuen linken Alternative. So haben mehr als 350 prominente AktivistInnen der globalisierungskritischen Bewegung, wie Noam Chomsky oder Ken Loach, Anfang September diesen Jahres eine Unterstützungserklärung für die Spitzenkandidatin Heloísa Helena unterzeichnet.
In der Erklärung für die Kandidatin heißt es, Helena vertrete heute die Interessen der ArbeiterInnen und BäuerInnen, der Armen und der Unterdrückten. Die Regierung Lulas habe dagegen Millionen von Menschen enttäuscht, die ihn im Jahr 2002 „in der Hoffnung auf einen sozialen Wandel und eine radikale Politik“ gewählt hatten. Ebenso gehe es Menschen aus aller Welt, die sich von Lula einen „neuen Impuls für den antiimperialistischen Kampf“ erhofft hätten. Im Gegensatz zu Lula seien „Heloísa Helena und ihre GenossInnen dem ursprünglichen antiimperialistischen und sozialistischen Programm der ArbeiterInnenpartei treu geblieben“.7
Deutlich wurde das in den Forderungen der PSOL im Präsidentschaftswahlkampf. Die Kernpunkte waren: radikale Agrarreform; Suspendierung der Zahlung der Auslandsschulden; radikale Reduzierung der Arbeitszeit ohne Einkommenseinbußen; Ablehnung der Amerikanischen Freihandelszone ALCA/FTAA und Unterstützung für ALBA, die Bolivarianische Amerikanische Allianz (Venezuela, Bolivien, Kuba).

Die Wahl Anfang Oktober hat gezeigt, dass dieses Programm von mittlerweile mehr als sechs Millionen Menschen unterstützt wird. Das ist mehr als ein Achtungserfolg, zumal die Führung der Gewerkschaftsdachorganisation CUT, genauso wie die Sprecher der MST sich – wenn auch kritisch im Detail – für die Wahl Lulas ausgesprochen hatten. Dass 6,9 Prozent mit der Illusion, dass die PT das „kleinere Übel“ darstelle, und Lula wieder zu seinen politischen Wurzeln zurückgeführt werden könne, gebrochen haben, zeigt die Möglichkeiten für den Aufbau einer konsequent anti-neoliberalen und anti-imperialistischen linken Alternative in Brasilien.

Anmerkungen

1 Vgl. zur Entwicklung der PT z.B. Gonzales, Mike: „Brazil in the eye of the storm“; in: International Socialism 98 (2003)
2 Vgl. Vogel, Thomas: Vorbild Brasilien. In: Südwind Magazin 03/2005, Seite 31
3 Vgl. Vogel, Thomas: Vorbild Brasilien. In: Südwind Magazin 03/2005, Seite 31
4 Vgl. Pablo Ortellado: What happened to the left? In: Znet, August 08, 2003
5 Vgl. Wahl, Joachim: Die Regierung Lula nach ihrem ersten Jahr. In: Utopie kreativ, September 2004
6 Vgl. François Sabado: Krise und Neuformierung der Linken in Brasilien. in: Inprekorr, Februar 2006
7 Vgl. www.zeit.de am 05.09.06





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