Christine Nöstlinger im Gespräch

„Ich war furchtbar grantig, als der Krieg aus war.“

von Marlene Liebhart

Christine Nöstlinger (geboren 1936 in Wien) erlebte als Kind den Zweiten Weltkrieg. Einige ihrer Erfahrungen aus dieser Zeit hat die österreichische Kinderbuchautorin literarisch in Bücher und Texte verpackt. Am 22. April 2016 las sie vor dem gut gefüllten Saal im Eichgrabener Gemeindezentrum aus „Glück ist was für Augenblicke“. Wir haben mit ihr darüber gesprochen wie ihr Eichgraben gefallen hat, wie es war im Zweiten Weltkrieg als Kind einer antifaschistischen Familie aufzuwachsen und was sie unter Integration versteht.

Sie haben vor kurzem eine Ihrer seltenen Lesungen in Eichgraben gehalten. Wie war’s?

Ich mach nicht gerne Lesungen. Obwohl ich glaub, ich mach’s gar nicht schlecht!
Als ich fertig war hat der Serwer Sheikh Mousa eine kurze Rede gehalten, dass er dankbar ist und dass es den Flüchtlingen in Eichgraben gut geht. Sehr blumig. Arabische Höflichkeit.

Nachher hab ich zu irgendjemandem gesagt: „Des is oba schen do!“
Daraufhin wurde mir schon irgendwie zu verstehen gegeben, dass nicht ganz Eichgraben froh über die Flüchtlinge ist. Mit Andeutungen, man kennt ja solche Leute.
„Naja, alle sind ja nicht dafür…“
Sowas.

Wie haben Sie Eichgraben allgemein empfunden?

Mein Gott, wie halt so ein Nest ist. Du siehst halt Leut‘ sitzen, die höflich klatschen. Bei den einen merkst du, mit denen bist du irgendwie auf einer Wellenlänge. Und dann gibt es die anderen, denen es eigentlich nicht so richtig gefällt, die aber höflich sind. Und sich nicht trauen zu einer Person ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad zu sagen: „Pfui Teifl.“

Woraus haben Sie denn vorgelesen?

©Felix Vratny
© Felix Vratny

Aus meinem Buch „Glück ist was für Augenblicke“. Lebenserinnerungen.

Eines von vielen Büchern, in denen Sie über Ihre Kindheit schreiben.

Ja schon. Im Grunde genommen muss man als erwachsener Mensch, wenn man für Kinder schreibt, irgendwie immer über seine eigene Kindheit schreiben. Denn ich kenne ja nur die Gefühle und das Denken, das mir irgendwie ähnlich ist. Ich bin zum Beispiel völlig unsportlich. Ich könnte nie ein Buch schreiben, wo die Hauptfigur ein sportliches Kind ist. Weil das in mein Gehirn nicht hineingeht, wie das ist.

Kinder wachsen heute ja in einem sehr friedlichen Österreich auf. Einen Krieg hat es bei uns schon lange nicht mehr gegeben. Sie waren zwei Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Was bedeutet das für ein Kind?

Das wird sehr verschieden sein. Es wird Leute geben, die als Kinder von diesem Krieg überhaupt nicht viel mitbekommen haben. Und es wird solche geben, die noch viel mehr mitbekommen haben als ich. Aber natürlich bedeutet das Angst und Unsicherheit. Es kommt ganz darauf an in welcher politischen Situation man steckt. Wenn ich ein Nazi-Kind gewesen wäre, wäre es mir wahrscheinlich anders gegangen. Aber meine Familie waren Antifaschisten. Das war eine ganz spezielle Situation, weil ich daheim viel gehört und gesehen habe, was ich woanders nicht erzählen konnte. Das weiß man als Kind, das hat mir niemand erklären müssen.

War das nicht auch belastend?

Ja, wahrscheinlich. So bewusst hab ich das ja nicht erlebt, denn als der Krieg vorbei war, war ich erst acht Jahre alt. Aber es hat auch schwierige Sachen für mich gegeben – ich habe zum Beispiel immer die Farbe rot geliebt. Und im Krieg hat es ja nichts Rotes gegeben. Die Strümpfe waren braun, die Pudelhauben waren braun…

Warum das? Durfte man die Farbe nicht tragen?

Na, dürfen hätte man schon, aber es gab ja nichts zu kaufen und dann wurde eben die alte Weste von der Großmutter aufgetrennt und aus der Wolle wurde für mich eine Pudelhaube gestrickt. Und meine Großmutter hat eben nur grau und braun gehabt.

Einmal, das muss kurz vor dem 20. April gewesen sein, da bekamen wir in der Schule anlässlich Hitlers Geburtstag ein Buch. Und das war in knallrotes Leinen gebunden, mit einem Titel in Goldschrift. „Mutter erzählt von Adolf Hitler“, ist da drauf gestanden. Und ich bin stolz mit dem Buch heimgegangen, brandrot wie das war. Meine Mutter sieht das Buch und packt es und schreit: „An Scheißdreck erzählt die Mutter von Adolf Hitler!“ und will das Buch in den Ofen hineinschieben. Das Ofentür’l war aber zu klein, darum hat sie es zerrissen. Dann hat der ganze Ofen geraucht, weil er das Buch nicht vertragen hat.
Da war ich schon traurig, dass das Buch weg war.

Gab es auch Momente, in denen Sie Angst hatten?

Mein Großvater hat immer unter einer Decke versucht BBC zu hören. Und das habe ich ja gewusst, dass das verboten und gefährlich ist, da hatte ich schon Angst um ihn.
Und dann diese richtig große Angst im Keller, wenn die Bomben fallen und die Leute alle hysterisch werden, die lässt sich ja eigentlich nicht in Worte kleiden.
Ich habe erlebt wie eine Bombe ins Nachbarhaus eingeschlagen ist. Die Leute sind aus dem hinteren Teil des Kellers hervorgestürmt und hätten mich und meine Schwester fast zu Boden getrampelt. Da schaut ja keiner, dass er auf Kinder Rücksicht nimmt, in dieser Todesangst.

Das wirkt auch lang nach. Früher, wenn ich an irgendeiner Baustelle vorbeigegangen bin, wo sie vielleicht ein Haus umgerissen haben und ich Mauerstaub in Mund und Nase gekriegt habe – da hab ich immer kurz ein panisches Gefühl bekommen. Noch 30 Jahre später.

Wie haben Sie und Ihre antifaschistische Familie sich eigentlich im Zweiten Weltkrieg, als es ja so etwas wie Meinungs- oder Pressefreiheit nicht gab, informiert? Wie konnte man da an Nachrichten gelangen, die nicht freigegeben waren?

Ich hatte einen Onkel, der Obernazi war. Ein sehr hoher SS-ler, der Bruder meiner Mutter. Durch den konnte man sich die Meinung bilden. Als ich acht Jahre alt war, habe ich ihn sagen gehört, „Die Juden gehen durch den Rauchfang.“ Da hat ihm meine Mutter eine Watschen gegeben. Sie war ja die große Schwester.
Das ist auch so typisch. Die zwei waren politisch völlig konträr, aber Blut ist dicker als sonst was. Richtig bös‘ ist sie mit ihm nie geworden.

 

 „Die Juden gehen durch den Rauchfang“… War das allgemein bekannt?

Das weiß ich nicht… aber wenn es heißt, man hat nicht gewusst, was passiert…
Was haben sie sich denn eingebildet, was mit ihnen passiert? Wenn sie plötzlich weg waren, wenn die Wohnungen eine Woche später von anderen besetzt wurden. Wenn die Möblage verschachert worden ist um billigstes Geld, was haben sie denn geglaubt, was mit denen ist?
Aber ob es allgemein bekannt war weiß ich nicht. Es hat nicht jeder einen hohen SS-ler zum Onkel gehabt.
Mit sieben Jahren kann man sich nicht vorstellen, dass Leute verbrannt werden. Ich weiß noch, wie ich es mir stattdessen vorgestellt habe. Da gibt’s ein Bild von Chagall, da ist ein Haus und über dem Haus schwebt ein Engel. Die Juden gehen durch den Rauchfang… So hab‘ ich mir das gedacht.

Begreift man als Kind, was das bedeutet, der Tod und der Krieg?

Na…
Na, das begreift man nicht. Wenn meine Großmutter, die eine sehr dumme und böse Frau war, mit dem Finger unter der Zeile laut aus dem „Völkischen Beobachter“ vorgelesen hat – sich selber oder mir, das weiß ich nicht – und es geheißen hat: „Es fielen an der Front 30 Soldaten“… Dann hab ich mir vorgestellt, wie Zinnsoldaten einfach so, peng, umfallen.

Dass es nichts Gutes ist, hab ich schon gewusst. Es war natürlich was ganz anderes, wenn meine Mutter heulend beim Küchentisch saß, weil schon seit drei Wochen kein Brief von meinem Vater kam.

Haben Sie selbst im Krieg Angehörige verloren?

Nein, aber mein Vater war so zerschossen als er zurückkam, dass er eigentlich später daran gestorben ist. Da war er knappe 60. In den Beinen zum Beispiel hatte er, glaube ich, im ganzen 50 Granatensplitter. Die sind dann immer so herausgeeitert.

In den Jahren danach, als man beschäftigt war mit dem Wiederaufbau, hatte man da Zeit die Geschehnisse im Krieg zu verarbeiten? War das überhaupt Thema?

Nein, wenn du neun, zehn oder elf Jahre alt bist beschäftigst du dich ja nicht mit der Vergangenheit. Mich hat viel mehr beschäftigt, dass meine alten Freundinnen aus der Volksschule nicht mehr mit mir geredet haben, weil ich die einzige war, die ins Gymnasium gegangen ist. Und dann das Integrieren in die neue Schule. Das waren meine Probleme.

Was bedeutet denn für Sie Integration?

Ja eigentlich, wenn man mit seinem Leben da, wo man ist, zufrieden ist. Das kann eben ganz verschieden sein. Was die meisten Leute unter Integration verstehen ist Assimilation. Und das ist zwar für jemanden der es zusammenbringt wahrscheinlich am besten, aber muss nicht sein.

Da bei mir im dritten Stock wohnt eine türkische Frau, die seit 25 Jahren hier ist und keinen einzigen deutschen Satz kann. Aber ich finde, die ist trotzdem integriert. In dieses Leben, das sie da hat. Sie zieht ihre Kinder groß, scheint sich nicht unwohl zu fühlen. Und wenn sie etwas braucht, das man nicht im türkischen Geschäft kriegt, dann geht der Mann einkaufen. Also von mir aus gesehen ist sie integriert. Ich verlange dafür wenig.
Das Grätzel, wo ich wohne, ist völlig Türkisch. Da stelle ich auch fest; es gibt eine Parallelgesellschaft. Türkische Läden, Standler, Bäcker, Kaffeehäuser, Restaurants… Sie können leben. Nur die zweite, dritte Generation – die bleibt dann auf dem Hilfsarbeiterstatus. Sie bekommen einen schlechten oder gar keinen Schulabschluss und keine Lehrstelle. Das liegt daran, dass sie oft nicht gut genug Deutsch sprechen.

In Eichgraben, genauer gesagt in der Flüchtlingsunterkunft im Kloster Stein, habe ich unter den Spielsachen im Gemeinschaftsraum eines Ihrer Franz-Bücher entdeckt. Später hat mir ein 22-Jähriger Flüchtling erzählt, dass er mit den Kinderbüchern Deutsch lernt.

Mein Ex-Schwiegersohn ist Syrer und der gibt jetzt Deutschunterricht für syrische Flüchtlinge. Er verzweifelt daran, dass sechs davon Analphabeten sind, auch auf Arabisch. Viele von den Syrern die kommen, sind ja auch sehr gebildet. Aber dass nur lauter Ärzte und Ingenieure kommen, so ist es nicht.
Das sollte aber kein Kriterium sein, ob man ihnen hilft. Überhaupt; die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtling und politischem Flüchtling… Ja bittschön, wenn meine Familie am verhungern ist, ist das kein Grund, dass ich fortgeh?

Haben Sie das als Kind auch erlebt, dass Sie hungern mussten?

Nein, so war’s nie. Es war halt sehr einseitig und sehr merkwürdig. Erdäpfel gab’s immer. Und meiner Mutter, meiner Schwester und mir, uns standen pro Woche 25 Deka Fleisch zu. Das hat meine Mutter in Extrawurst umgesetzt, da hat man mehr bekommen, weil da so viel Mehl drin war. Die Wurst hat meine Mutter dann paniert, wie Schnitzel.

War das gut?

Mir hat’s mit Leidenschaft geschmeckt. Als es dann wieder Fleisch und echte Schnitzel gab, hat meine Mutter das weiter für mich machen müssen.
Nach Kriegsende sind dann aber auch ein paar Leute verhungert. Und zwar sehr alte Leute, die sich einfach nicht mehr auf die Gasse getraut haben. Die dann halt verängstigt in ihren Wohnungen saßen. Aber das waren ganz wenige.

Sie haben damals in Hernals gewohnt, als der Krieg vorbei war, oder?

Naja als der Krieg vorbei war sind wir umgezogen, weil unser Haus zerbombt war. Da wurden wir in eine Villa in Neuwaldegg evakuiert, in der auch Russen einquartiert waren. Ich hab sie geliebt! Wenn sie besoffen waren, waren sie ein bisserl gefährlich, aber nicht für Kinder. Die waren zu Kindern sehr nett.
Das war aber auch eine Eliteeinheit, Funker. Alles studierte Menschen.

Hat sich die Welt sehr verändert für Sie, als der Krieg aus war?

Ich war furchtbar grantig. Weil in meinem kindlichen schwarz-weiß Denken war das so: Wenn der Krieg endlich aus ist – und ich hab ja immer gehört wir müssen den Krieg verlieren – dann kommen alle Nazi weg. Und von mir aus hätten sie die auch umbringen können, Kinder sind schon so!
Das ist halt nicht passiert. Die Nazis aus unserem Haus gab es immer noch. Und die hatten immer noch mehr als wir. Also ich war da sehr unzufrieden.

Was nimmt man denn noch ins Erwachsenenalter mit aus einem Krieg?

Jeder was anderes. Ich politisches Engagement. Etwas, das mich immer mehr verdrießt und was ich auch für mich persönlich wahnsinnig traurig finde, ist, wenn ich mir diesen Rechtsruck in ganz Europa anschaue. Dass ich es je erlebe, dass der Herr Strache noch Bundeskanzler werden könnte – so hab ich mir mein Leben nicht vorgestellt!
Sie in ihrem Alter können noch hoffen, dass das einmal wieder anders wird. Ich kann in den paar Jahren, in denen ich noch lebe, nicht mehr darauf zählen.

Was könnten Gesellschaft und Politik Ihrer Meinung nach besser machen?

Wenn die Leute halt so sind, wie sie sind, wird sich nicht viel ändern. Es ist eine Neidgesellschaft und der Neid richtet sich erstaunlicherweise in unserer Bevölkerung nicht an die da oben, die wirklich viel haben. Neidig ist man dann auf den Mindestsicherungsbezieher, dass der vielleicht einen Hunderter zu viel hat.

Kommt ein männlicher Flüchtling allein ist er ein Schuft, weil er seine Familie zurückgelassen hat. Kommt er mit der Familie wird ihm vorgeworfen, wie er sie nur so einer Flucht aussetzen kann…
Ich verstehe einfach nicht, dass es Menschen gibt, die so überhaupt kein bisserl Empathie haben, wenn sie solche Bilder im Fernsehen sehn.


Dieses Interview entstand im Rahmen des Buchprojektes „Auf-/Um-/Durch- Bruch“ von Felix Vratny, Verena Repar und Evi Langes.
Einer Diplomarbeit für DieGraphische über Künstler der Nachkriegszeit in Wien.

"Die Israeliten Essen das Passahlamm" von Marc Chagall (Gouache, 62x49 cm, 193) Quelle: WikiArt.org
„Die Israeliten Essen das Passahlamm“ von Marc Chagall (Gouache, 62×49 cm, 193) Quelle: WikiArt.org

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