„Tübingen, den 6. März 1848

Lieber Gustav,

du willst wohl meinen letzten Brief erhalten haben, welchen ich dir vor meinem Abgang nach Ohmenhausen geschrieben habe, wo ich gerade drei Wochen war und nach meiner Zurückkunft glaubte, einen Brief von Dir anzutreffen. Doch dem war nicht so, und doch fehlt es dir wirklich gewiß nicht an neuem Stoff dazu, bei den gegenwärtigen Ereignissen. Mit Angst und Spannung sieht man der Zukunft entgegen, denn man weiß ja nicht, was bei der raschen Entwicklung der Dinge uns der nächste Augenblick bringt.

Und da möchten wir doch auch wissen, was dein Vorhaben ist, ob du in Baden vor der Hand eine bleibende sichere Stelle hast, oder überhaupt, ob du noch gar nicht an den möglichen Fall einer großen Revolution gedacht hast? In unserer Stadt sind die Gemüter noch nicht so sehr aufgeregt, daß wir einen schnellen Ausbruch zu befürchten hätten. Auch in Stuttgart soll es wieder ruhiger sein.

Hier, wie in allen Orten, werden Versammlungen gehalten, wo die Anliegen des Volkes in Adressen an den König angefertigt werden. Dr. Uhland hielt in einer solchen Versammlung eine kräftige Rede und verfertigte auch die mitfolgende Adresse. Daß wir nun Preßfreiheit haben, wirst Du wohl schon gehört haben. Und niemand macht sich lauter darüber als der Beobachter. Am Rekrutentag ging es sehr lebhaft in unserer Stadt zu. Es gab auch einige Schlägereien. Es war gerade der Tag, an welchem das Gesetz der Zensur aufgehoben wurde. Und da schrien die Leute, klein wie groß, durch alle Straßen: „Vifat Pressfreiheit!“

Des Dennelers Carl hat es verspielt. Wie es beiden andern ist, weiß man noch nicht. Man sagt davon, daß man alle tüchtig ausheben werde. ( … )  Deine treue Mutter Rosine Lenz, Wittwe.“

 

Diese Zeilen sind ein Ausschnitt aus dem Original-Briefwechsel zwischen Gustav Lenz und  seiner Mutter Rosine und seiner Schwester Marie Lenz in Tübingen. Gustav Lenz verließ während der Revolutionszeit 1848 das aufgewühlte Tübingen  und wanderte wie Tausende andere aus dem deutschen Südwesten in die USA aus.

Mehr zu den Ereignissen in Tübingen um 1848, zum geschichtlichen Hintergrund sowie der vollständige Briefwechsel findet sich in  meinem Buch  „Dazwischen der Ozean. Biografien, Erinnerungen und Briefe von Deutschen in Amerika nach 1848“ (edition steinlach 2013). Das Original des hier abgebildeten Briefes stammt aus dem Privatarchiv Erbe, Tübingen.

Brief der Tübingerin Rosine Lenz an ihren Sohn Gustav, März 1848
Brief der Tübingerin Rosine Lenz an ihren Sohn Gustav, März 1848