Gasrohre an der Zimmerdecke?! – Ausbau-Geschichte 1986

[Ein Teil dieses Beitrags ist im Neustädter Markt Journal, Heft Nr. 22, im Juni 1993 erschienen]

… über 23 Meter Gasrohr in der Wohnung

1986_Nst.18_GasrohreMit Hammer, Meißel und Bügelsäge haben wir im Frühjahr 1986, teilweise unter großen Mühen, altes rostiges Gasrohr von den Zimmerdecken unserer Ausbauwohnung in der Neustädter Straße Nr. 18 entfernt.  Die alten Rohrstücke führten jeweils vom Wohnungsflur bis zur Zimmermitte, offenbar frühere Gasbeleuchtungs-Anschlüsse. Die Rohre aneinandergereiht kamen wir schließlich auf eine stattliche Länge von etwa 23 Meter Gasrohr-Schrott.

Wann dieses Gasrohr eingebaut wurde, lässt sich heute nicht genau feststellen, vermutlich zu Beginn dieses Jahrhunderts.
In vielen Abhandlungen, Artikeln und Beiträgen wird dieser Zeitabschnitt im damaligen deutschen Kaiserreich gern als ,,große deutsche Zeit“ des Aufschwungs vor dem ersten Weltkrieg beschrieben. Blättert man im alten „Leipziger Kalender“ (z.B. Ausgabe 1913), dann kann man viel über große Bauvorhaben lesen: der Hauptbahnhof, das Völkerschlachtdenkmal, die Deutsche Bücherei, die „Runde Ecke“ als Versicherungsgeschäftshaus, das Stadtbad, Bankgebäude, Messehäuser usw.. Eine große Zeit allgemeinen Wohlstandes und Überschusses?
Ein Blick ins „Statistische Jahrbuch der Stadt Leipzig“ aus dem Jahr 1911 gibt da schon einen realistischeren Einblick, beispielsweise bei der Ausstattung der Wohnungen, in der Vielzahl sehr bescheiden, wie nachfolgende Tabelle zeigt:

Tabelle.1911

Kerzenlicht, Petroleumlampe und Gaslicht sind also keinesfalls verstaubte Zöpfe aus dem vorigen Jahrhundert. Folgt man den Angaben der Tabelle, so waren selbst im Zentrum Leipzigs nur knapp die Hälfte der Wohnungen mit Gaslicht ausgestattet, etwa 5 % mit elektrischer Beleuchtung!
In der Neustädter Gegend waren etwa ein Drittel der Wohnungen mit Gaslicht und weniger als 1 % mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet. Die Neuschönefelder Wohnungen waren noch bescheidener mit nur etwa 14 % Gaslicht und ebenfalls nur sporadischer elektrischer Beleuchtung. Nur in Reudnitz ging es mit 45 % Gaslicht und etwa 2 % elektrischer Beleuchtung in den Wohnungen etwas städtischer zu.
Moderne Heizungsanlagen waren in den Leipziger Außenbezirken nicht erschwinglich, da gab es nur vereinzelte Ausnahmen in großen Restaurants (z.B. in den Kaiserhallen in der Eisenbahnstraße), Veranstaltungssälen oder Kirchen.

hist-34

Leipzig-Neustadt, Postkarte von der Eisenbahnstraße,
um 1904 – auf der linken Straßenseite das Restaurant ,,Kaiserhallen“

Im Leipziger Osten waren damals nur knapp 8 % der Wohnungen mit einem Bad ausgestattet, 15 % mit IWC und 15 % hatten ein gemeinschaftliches Trockenklo über’n Hof.
So verlockend waren diese Zeiten aus heutiger Sicht offenbar doch nicht gewesen…
Bei der Wohnungsausstattung schnitt Neustadt, im Vergleich mit den benachbarten Wohngebieten von Neuschönefeld und Volkmarsdorf damals vergleichsweise gut ab.
Heute allerdings sind die meisten Häuser sanierungsbedürftig. Dem Heft 11 des NMJ (Neustädter Markt Journals) vom Juli 1992 kann man aus einer soziologischen Studie folgende statistisch ermittelte Zahlenangaben entnehmen:
der Ausstattungsgrad der Wohnungen mit Innen-WC (42 %), Bad/Dusche (46 %) und modernem Heizsystem (13 %) lag auch im Jahr 1992 weit unter Leipziger und noch weiter unter gesamt-bundesdeutschem Niveau. So neu und überraschend waren diese Ergebnisse für unsere Bewohner (soziologisch/neuwestdeutsch: BewohnerInnen) nicht.
Die Taten lassen allerdings oft auf sich warten; seit 1977 gab’s dazu ja schon die tollsten Projekte – von ,,sozialistischer Lösung” bis zum Springbrunnen im grün angestrichenen Öko-Hinterhof.

Dr. H. Stein Leipzig, Mai 1993

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