Ostukraine: Russlands nicht erklärter Krieg bricht aus

Die Ukraine beschließt die Teilmobilmachung der Bevölkerung – und Russland rüstet an der ukrainischen Grenze auf. Der Krieg hat praktisch schon begonnen.

Wenn nicht schnell etwas passiert, wird es noch viele Orte der Trauer wie hier in Shipol geben. Foto: Roman Boed / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Der Wahnsinn geht weiter. Nach dem Abschuss des Flugs MH17 ist eine neue Eskalationsstufe erreicht worden, von der aus der Weg zurück schwierig bis unmöglich ist. Zumal der Weg zurück zur Vernunft voraussetzt, dass alle Beteiligten dies wollen. Während man beim ukrainischen Präsidenten Poroschenko noch nicht genau weiß, wo er eigentlich hin will, ist die Sache beim russischen Präsidenten Wladimir Putin klarer. Während er von Frieden spricht und zusagt, er wolle auf die „Separatisten“ einwirken, zieht er seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen. Wie 1914 warten alle darauf, dass die jeweils andere Partei einlenkt. Doch wie 1914 wird keine der Parteien einlenken. Und wie 1914 stehen wir vor dem Ausbruch eines großen Kriegs in Europa.

Es ist unglaublich, wie Wladimir Putin die Welt zum Narren hält. Weiterhin tut er so, als habe er nichts mit den „pro-russischen Separatisten“ zu tun. Dabei sind diese „Separatisten“ in ihrer großen Mehrzahl keine Ukrainer, sondern in die Ostukraine verfrachtete Russen, aus Tschetschenien, Ossetien, Armenien und anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Nachdem sich einer der (russischen) Kommandanten gerade erst beschwerte, dass sich in der Millionenstadt Donetzk „nicht einmal ein paar Tausend Mann für den Kampf finden“, muss man sogar die Frage stellen, ob die Bevölkerung der Ostukraine eine Abtrennung von der Ukraine überhaupt will, oder ob die Bevölkerung aus Angst vor den aus Russland eingesickerten Militärs nur Angst hat, laut und deutlich zu sagen, dass sie diesen Krieg nicht will.

Das Rote Kreuz, das vor Ort ist, hat die Situation in der Ostukraine bereits als Krieg bezeichnet. Nicht als Bürgerkrieg, sondern als Krieg. Hierfür sprechen auch die rund 41.000 russischen Soldaten, die mit Hunderten Panzern und Artilleriegeschützen einsatzbereit an der Grenze stehen. Hierfür spricht auch die Teilmobilmachung, die der ukrainische Präsident gestern angeordnet hat.

„Teilmobilmachung“. In Europa kennt man solche Begriffe nur noch aus Geschichtsbüchern und jetzt wird dieser Begriff in Europa zur Realität. Auch, wenn sich die EU gerade große Mühe gibt, angemessen zu reagieren, so herrscht doch Ratlosigkeit, denn jeder weiß, dass auch Sanktionen irgendwann ausgereizt sind und keine Wirkung mehr haben. Zumal diese Sanktionen vor allem eines zur Folge haben – nämlich dass sich das russische Volk hinter seinem Präsidenten versammelt. In der russischen Propaganda ist nur noch von „Faschisten“ die Rede, wenn es um die Ukraine, Europa oder die USA geht. Mit dieser Propaganda soll „Mütterchen Russland“ auf den nächsten „vaterländischen Krieg“ vorbereitet werden.

Viele westliche Medien frohlocken schon, dass Putin nach dem Abschuss des Flugs MH17 am Ende sei, sich überreizt habe und politisch ins Abseits gerät. Was für eine Fehleinschätzung! Putin führt die Welt gerade am Nasenring durch die Manege und es wäre das erste Mal, dass ein kriegshungriger Despot Gewissensbisse aufgrund mörderischer Aktionen hätte. Putin will den Krieg nicht nur, sondern er führt ihn bereits, auch wenn er ihn bislang nicht offen erklärt hat, sondern weiterhin absonderliche Rechtfertigungen für sein Tun verkündet.

Die jämmerlichste Rolle spielt in Europa François Hollande. In einer Situation, in der Russland den Frieden in Europa nicht nur bedroht, sondern bereits gebrochen hat, ist es unverständlich, dass Frankreich trotzdem High-Tech-Kriegsgerät an die Russen liefert. Die beiden Hubschrauberträger des Typs Mistral stellen einen Wert von 1,1 Milliarden Euro dar. Ist das der Preis, für den Frankreich Europa in den Rücken fällt? Oder meint Hollande tatsächlich, dass bei einem drohenden Krieg die französischen Interessen ausgeklammert bleiben? Dass Frankreich, um eine Vertragsstrafe von 1,1 Milliarden Euro zu verhindern, Russland neueste Rüstungstechnik liefert, von der man genau weiß, gegen wen sie eingesetzt werden kann, ist nicht nur politisch dumm, sondern gefährdet massiv europäische Sicherheitsinteressen. Und Hollande sollte sich einmal die Frage stellen, wie er sich fühlen wird, sollten eines Tages französische Soldaten von den Waffensystemen getötet werden, die er selbst an Russland geliefert hat. Sollte das passieren, so hätte der französische Präsident französische Arbeitsplätze gegen französische Menschenleben eingetauscht.

Es ist eine Tragödie, dass Europa in Zeiten einer solchen Krise nicht von erfahrenen und schlauen Diplomaten gelenkt wird, sondern von Marionetten der Industrielobbys, die offensichtlich das Ausmaß der Krise noch nicht einmal ansatzweise verstanden haben.

Europa wird sich schnell überlegen müssen, wie es sich dann verhalten wird, wenn die nächste Eskalationsstufe erreicht wird und diese wird erreicht werden. Denn es liegt in Putins Hand, wo es hingeht und seine Absichten werden jeden Tag durchschaubarer. Was wird, wenn Putins Truppen die Grenze der Ukraine überschreiten, so, wie sie es bereits auf der Krim getan haben? Wird Europa dann wie 1938 zusehen, wie Putin einen kontinentalen Krieg vom Zaum bricht? In der Hoffnung, der Kriegsherr würde sich zum Friedensstifter entwickeln? Oder werden wir Begriffe wie „Teilmobilmachung“ auch in unseren Ländern in den aktiven Wortschatz aufnehmen müssen?

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