Ein Grenzfall

Nordirland1

Was würde ein Brexit für Nordirland bedeuten? Die meisten Menschen, die jahrzehntelang unter Gewalt und Terror litten, sind froh, dass es keine Grenzen mehr gibt. Doch müssten nach einem Brexit nicht wieder Kontrollen zu Irland – es ist die einzige Landgrenze der EU zum Königreich – errichtet werden? 

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Die beiden Frauen spazieren gemächlich über die Brücke mit der alten, hübschen Steinmauer auf beiden Seiten. Die untergehende Sonne färbt den Fluss, der den See Upper Lough MacNean mit dem Lower Lough MacNean verbindet, tiefblau ein und das Grün der Hügellandschaft blendet den Betrachter in seinen satten Farben. Wohin zu Fuß an diesem Abend, will man wissen? Una O’Reilly antwortet nicht, greift stattdessen in ihre Handtasche und zieht ein halbfertiges Mützchen hervor, an dem ein Faden wie eine Nabelschnur noch mit dem Wollknäuel verbunden ist.

Jeden Dienstag um halb acht geht die Britin zum Häkeln nach Irland.

Von Belcoo, dem 486-Seelen-Dorf im Vereinigten Königreich, bis nach Blacklion, dem kleinen Dorf in der Republik Irland, sind es 152 Schritte. Kein Schild oder offensichtliche Markierungslinie zeigen an, dass man gerade einen souveränen Staat verlässt und einen anderen betritt. Doch das Bild an der fast 500 Kilometer langen, einzigen Landgrenze des Königreichs mit einem EU-Staat könnte sich bald ändern. Am 23. Juni stimmen die Briten in einem Referendum darüber ab, ob sie Mitglied in der EU bleiben oder aber austreten wollen. Ein Brexit – für viele Bewohner Nordirlands klingt das wie ein Rückfall in „schlechte alte Zeiten“, als die Region einer Kriegszone glich. Während des Nordirlandkonflikts, den sogenannten „Troubles“, waren an der Grenze schwer bewaffnete Soldaten, Wachposten und Zollbeamte stationiert, die Menschen, Pässe und Autos kontrollierten. Lange Wartezeiten, viel Papierkram und gewaltsame Zusammenstöße gehörten zum Alltag. Der Terror zog sich durch die 70er, 80er und Anfang der 90er Jahre: Die katholische, republikanische Seite, die eine Abtrennung von Großbritannien und eine Vereinigung mit der katholischen Republik Irland anstrebte, und die pro-britisch orientierten protestantischen Unionisten standen sich in bitterer Feindschaft gegenüber. „Zum Glück ist das alles vorbei“, sagt Harold Johnston, der einen Laden in Blacklion führt. Dieser präsentiert sich bis obenhin vollgestopft mit T-Shirts, Hemden, Hosen, Wolle und einigen Antiquitäten. Der Ire im Alter von „in den 70ern“ zeigt auf die Kreuzung nur wenige Meter von der Brücke und seinem Geschäft entfernt. „Da standen mehr als 40 Wachen und mehrere Offiziere“, erinnert er sich. „Zwei Bomben explodierten hier, besonders schlimm war der Anschlag im Jahr 1974.“ Keiner habe sich richtig wohl dabei gefühlt, nachts auszugehen.

„Das haben wir doch hinter uns gelassen, niemand will zurück in diese Zeiten“, findet Dymphna Stewart. Sie wohnt in Belcoo in der Grafschaft Fermanagh und betreibt das kleine Postamt im irischen Blacklion, dessen grünes „An Post“-Schild am Eingang des Dorfs darauf hinweist, dass man sich nun in der Republik befindet. Zahlreiche Briten kaufen hier ihre Briefmarken, wenn sie Grußkarten und Pakete in alle Welt verschicken wollen, weil es deutlich günstiger ist. Stewart bezeichnet einen möglichen EU-Austritt als „Albtraum“, sie will auf jeden Fall für den Verbleib stimmen. So viele Menschen lebten auf der einen Seite und arbeiteten auf der anderen. „Es würde mich verrückt machen, mehrere Male pro Tag angehalten zu werden.“

Nordirland-Ministerin Theresa Villiers besteht jedoch darauf, es werde keine neuen Grenzkontrollen oder -Befestigungen geben. Viele sind empört darüber, dass sich ausgerechnet die Konservative dem „Leave“-Lager, den sogenannten Brexiteers, angeschlossen hat. Gerade Nordirland profitierte massiv von Fördermitteln der EU, zahlreiche Bauern auf beiden Seiten erhalten überlebenswichtige Subventionen – auch in der ländlichen Gegend um Belcoo und Blacklion, wo die Landwirtschaft zur wichtigsten Einkommensquelle zählt. Zudem wurde der Friedensprozess der vergangenen zwei Jahrzehnte mit vielen Millionen Euro aus Brüssel begleitet. Wenn nun das Thema Migration im Fokus der hitzig geführten Debatte um die EU-Mitgliedschaft steht, fragen sich die Menschen in der Region, wie das zusammengehen soll: Offene Grenzen zu einem EU-Mitgliedstaat bei gleichzeitiger Forderung, den Einwanderungsstrom nach Großbritannien zu kontrollieren. „Grenzen wären eine absolute Katastrophe“, sagt Raymond Doherty, der die Bar im preisgekrönten Restaurant MacNean in Blacklion leitet. Zum Dinner reisen jeden Abend mehr als 80 Besucher an. „Die Wirtschaft ist schwach hier und ein Brexit würde der Tourismus-Industrie erheblichen Schaden zufügen“, sagt der 62-jährige Brite aus Belcoo. Dabei erhole sich diese gerade erst.

Auf der anderen Seite des Restaurants steht das Market House, wo dienstags nicht nur der Handarbeitskurs stattfindet, sondern auch die Touristeninformation untergebracht ist. Rund eine Million Euro erhielt das „soziale Zentrum“ in Blacklion aus Brüssel. Es werden Fotos von den nahen Marble-Arch-Höhlen, Häkelerzeugnisse der Frauengruppe sowie gälische Souvenirs verkauft und auf einem Bildschirm ein Film gezeigt über den von der Unesco anerkannten Geopark. Das Seenland lockt jährlich tausende Angler, Radfahrer und Urlauber an. Der Pubbesitzer Gerry Maguire glaubt zwar, dass auch bei einem Brexit noch genügend Touristen kommen würden. „Die wichtigste Frage für mich ist aber, wie sich der Wechselkurs zwischen Euro und Pfund entwickeln wird.“ Der in dunklem Holz getäfelte Pub ist seit 1890 in Familienbesitz. „Ruhige Zeiten kommen, aber sie gehen auch wieder“ – diese Weisheit hat Gerrys Großmutter ihm vor vielen Jahren mitgegeben. Entsprechend entspannt sieht der Geschäftsmann das Referendum beim britischen Nachbarn. Zwar ist mehr als die Hälfte der Nordiren laut Umfragen für den Verbleib, doch viele Menschen sind noch immer unentschlossen. Könnte ein Brexit neue Unruhen auslösen? Barmann Raymond Doherty winkt ab: „Der Friedensprozess steht auf einer soliden Grundlage.“

Una O’Reilly fragt dagegen scherzhaft, ob sie bald einen Pass mit sich führen muss, um zum Häkelkurs zu gehen. Ihre Freundinnen lachen auf und zucken dann die Schultern. „Könnt ihr euch das vorstellen?“, schiebt Una nach. Die Damen lachen nicht mehr. Sie häkeln weiter.

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