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ESC und Pizzarausch

20. Mai 2011

Letzten Samstag hab ich meinen Kopf abgeschaltet. Letztes Samstag hab ich mich selbst verletzt. Letzten Samstag hab ich mein eigenes Versprechen gebrochen, mich nicht dem überall diskutierten und über allen Klassen stehenden Eurovision Songcontest zu widmen.

Letzten Samstag gab es neun Pizzen und Bier und die Zurschaustellung eines Phänomens: nirgendwo und niemals sonst wird von Spitzbergen bis Gibraltar, von Franz. Guinea bis zum Ural schlechter Geschmack so gefeiert wie dieses eine Mal im Jahr. Und da hier in Schweden, wo der Eurovision Songcontest verstaubterweise noch Schlagerfestivalen heißt und jeder darüber redet und jedes Blatt darüber schreibt und jeder Kaffeesatz einen Ansatz zum Spekulieren bietet, hielt ich dann doch nicht dagegen, sondern verzog mich mit ein paar Freunden in ein kleines Zimmerchen auf Kungsholmen, dessen 10 Quadratmeter 4.200 Kronen im Monat kosten.

Da wohnt Simon aus Deutschland, der glaube ich seinen Master in Maschinenbau macht – also auf jeden Fall was mit Maschinenbau, so komplizierter Kram halt. Da muss Simon wohnen, muss es eigentlich heißen. Denn entweder nimmt man das von der Universität empfohlene Zimmer, auch wenn man es sich eigentlich nicht leisten kann, oder man muss zusehen, wo man sein Bett auf

Und dann saßen wir mit neun Personen da, schoben eine Pizza nach der anderen in den Ofen, hielten uns die Ohren zu und die Hand vorm Mund, falls wir mal wieder lachen mussten, weil dieser ESC (eine Abkürzung, die der Contest wahrlich verdient) Leute auf die Bühne hievt, die unserer Meinung nach ehrlich peinlich waren.

Und wer singt solche Texte? Wer hat so viel Schampotential, wer traut sich mehr? Wer hat noch nicht genug? Der Anwalt des schlechten Geschmacks hält sein Plädoyer und wir waren seine Zeugen. Und von allen unmöglichen Momenten war Moldawien für mich die Koryphäe unter den Ausreisern – mit ihren langen spitzen Hexenhüten und dem Einrad auf der Bühne und einem Lied, das nicht so klang, als würde eine Schmalzwelle übers Meer donnern. Am Ende waren sie irgendwo im hinteren Mittelfeld gelandet – viel zu unrecht, wie ich finde. Und Aserbaidschan, ohne zu wissen, wo das liegt – hinter Europa, doch vor dem Ural, hat es allen gezeigt. Mit depressiven Tönen den richtigen Ton erwischt, mit Tranen provozierender Attitüde und einer Spur von zu viel Zucker – so derbe Karies im Ohr eben.

Dieser Songcontest provoziert. Er provoziert durch zu viel Pop, durch Angeglichenheit, durch über weite Strecken erschreckende Eintönigkeit, durch konsequentes Ausbalancieren musikalischer Differenzen einzelner Lieder (oder Nationen), er provoziert durch ein durch sich selbst bejahendes, durch ein nur durch sich selbst bestimmendes Dasein (es gibt ihn immer noch, weil es ihn schon immer gab), das sich gegen den Umstand zur Wehr setzt, dass man den ESC eigentlich nicht braucht. Mehr noch, dass man ohne den ESC vielleicht mehr an die kulturelle Vielfalten Europas glauben könnte, weil dieser jene Vielfalt im Prinzip kategorisch ausgeschlossen hat. Schweden klang wie England klang wie Dänemark klang wie… nur die Franzosen, die waren irgendwie typisch – und Moldawien, die klingen bestimmt echt so, wie sie es uns gezeigt haben. Man sollte es sich mal anschauen und das Land mit einem Einrad erkunden.

Am Ende war es gut neun verschiedene Pizzen zu haben, denn jede unserer neun Pizzen war spannender als 80 Prozent der Backgroundtänze.

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