Muslim

Nach Duden und Wahrig ist ein Muslim ein „Angehöriger des Islams“. Das ist bequem, dann kann ich auf das Stichwort *Islam verweisen, das noch nicht fertig ist. Es bleiben aber noch einige Fragen offen.
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Seit wann gibt es Muslime?
Auch diese Frage behandle ich lieber bei „Islam“. Muslime gab es, sobald es einen „Islam“ gab.
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Was waren die ersten arabischen Eroberer, wenn nicht Muslime?
Die Bevölkerung der von Arabern eroberten Gebiete nannte die Eroberer im 7. Jahrhundert nicht Muslime, sondern bezeichnete sie mit anderen Namen:
– Sarazenen = Griechisch σαρακηνοί, „Die aus dem Osten“; so auch das biblische benē qedem.1 So wurden die Plünderer bezeichnet, die auf Kamelen hin und wieder das besiedelte Land heimsuchten.
– Scenitae = Griechisch σκηνίται, Zeltbewohner.
– Hagarener = Griechisch ἁγαρηνοί, Menschen die von Hagar abstammen.
– Syrisch mahg erayē, Griechisch μαγαρίται, magaritai, Arabisch muhādjirūn = Emigranten.
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Sarazenen, Scenitae und Hagarener sind offensichtlich Namen, die von Außenstehenden auf Araber angewandt wurden. Aber mahg erayē geht auf arabisches muhādjirūn zurück —  oder ist es vielmehr umgekehrt? Dieser Name wurde anfangs für die Emigranten von Mekka nach Medina verwendet, aber nach dem Tod des Propheten wurde er angewandt auf alle, die als Soldat in die Kriegsggebiete zogen. Es gab also viel mehr Emigranten als nur die kleine, geschlossene Gruppe Mekkaner, die mit dem Propheten nach Medina ausgewandert waren2 und ihre Zahl nahm stetig zu. Kurz vor seinem Tod soll der Prophet noch auf ihre Zunahme angespielt haben:

  • Al-Zuhrī hat gehört von ʿAbdallāh ibn Ka‘b ibn Malik: Am Tag, als der Prophet für die Gefallenen Uhuds salāts verrichtete und um Vergebung bat, sagte er auch: „Emigranten, behandelt die Helfer gut, denn andere Gruppen werden zahlreicher, aber die Helfer nicht. Sie waren meine große Stütze. Also, seid gut zu ihnen und seid nachgiebig, wenn sie Böses tun.“ Darauf stieg der Prophet von der Kanzel herunter und ging hinein. Seine Schmerzen wurden jetzt so stark, dass er ohnmächtig wurde.3

Ob die Muslime selbst sich vor 690 Muslime nannten ist noch umstritten. Auf jeden Fall war die Benennung „Gläubige“ üblich.
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Wer ist Muslim?
Persönlich würde ich meinen: Jeder, der erklärt, dass er es ist; jeder, der es sein will, und in den Augenblicken, in denen er es sein will. Aber so einfach ist das nicht. Eine Identität wird einem oft aufgedrängt; so z.B. vielen Juden in Europa, 1933–45. Auch die Muslimidentität ist eine, die Menschen oft aufgedrängt wird. In einer islamischen Umgebung ist es oft schwierig, sie los zu werden, falls dies jemand wollte. Auf Distanz zum Islam zu gehen wird durch die traditionell-islamischen Überzeugungen erschwert, dass jeder Mensch als Muslim geboren wird und dass er, einmal bekennender Muslim, nie aufhören darf es zu sein. 

  • Ein Hadith: … Von Abū Huraira: Der Prophet hat gesagt: „Jedes Kind wird mit der Veranlagung zum Islam (fiṭra) geboren; es sind seine Eltern, die es zum Juden, zum Christen oder zum Feueranbeter machen, sowie auch jedes Tier wie ein vollkommenes Junges zur Welt kommt; seht ihr darin irgendeinen Fehler?“ Dann sagte Abū Huraira: Lest, wenn Ihr wollt, den Vers:  „…die Art und Weise, in der Gott die Menschen geschaffen hat, kann (oder: darf) man nicht abändern,“ usw.4

In extremen Fällen könnten Menschen, die keine Muslime sein wollen, erst zu Muslimen und daraufhin zu Abtrünnigen erklärt werden.
Und die 10 bis 20 Millionen Aleviten inner- und außerhalb der Türkei? Vielleicht möchten sie gar nicht Muslime genannt werden, aber sie müssen es hinnehmen, weil sie sonst Probleme mit den türkischen Behörden bekommen. Auch in Indonesien gibt es Millionen Menschen, die zwar nominell Muslime sind, aber sich doch eher der javanischen Mystik (kebatinan) verbunden fühlen.
In Westeuropa stehen dann auch noch die Ungebildeten und die Islamhasser bereit, um Immigranten aus Nahost unwiderruflich zu Muslimen zu stempeln. Einwanderer, die früher einfach Türken oder Araber waren, werden seit 9/11 plötzlich als Muslime betrachtet, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt. Es fehlte gerade noch, dass ein fetter Buchstabe M in die Pässe gedruckt würde. Ein Denkfehler ist (wenn bei solchen Annahmen überhaupt gedacht wird), dass jeder Mensch, der aus einem arabischen Land oder Muslimstaat stammt, automatisch Muslim ist. Erstens gibt es dort auch Millionen Nichtmuslime. Zweitens sollen die Menschen doch bitte selbst entscheiden, was sie sind.
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Andererseits gibt es Muslime die von anderen Muslimen behaupten, jene seien keine. Die sunnitisch-islamische Auffassung, die jahrhundertelang galt, ist: Ein Muslim ist jemand, der zumindest bekennt: „Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist Gottes Gesandter.“ Wer in der Ausführung seiner religiösen Pflichten lässig ist, hört deshalb nicht auf Muslim zu sein. Der eine Muslim kann von dem anderen nicht sagen, jener sei kein Muslim; es sei denn, jener weigert sich das Glaubensbekenntnis (shahāda) zu sagen oder er sagt ausdrücklich, das Gebet sei nicht nötig, die Pilgerfahrt sei Unsinn, Mohammed sei kein Prophet o.Ä.. Erst dann ist er ein Abtrünniger. Aber nach einer extremistisch-militanten Auffassung ist ein Muslim jemand, der das Glaubensbekenntnis (šahāda) sagt, die religiösen Pflichten ausführt, sich Gottes Gesetz unterordnet und sich dementsprechend verhält; dies zur Beurteilung von … tja, von wem eigentlich? Es gibt heutzutage (wieder) militante Muslimgruppen, die den Anspruch haben zu beurteilen, ob andere Menschen Muslime sind. Gemütliche Zeitgenossen sind das nicht. Sie zögern nicht takfīr auszuüben, d.h. zu sagen, andere seien Ungläubige (kāfir, Pl. kuffār); und gegen Ungläubige ist nun mal Dschihad angesagt. Das Wort takfīr findet man gelegentlich auch in Gruppennamen wieder, auch in takfīrī, „jemand, der t. ausübt“.
Es gibt inzwischen in Deutschland und Holland (und wo noch?) Gruppen „bekennender“ Ex-Muslime.
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Wann ist jemand Muslim? 
Ein Mensch hat heutzutage mehr als eine Identität. Die Muslim-Taste ist nicht immer gedrückt. Wenn ein Muslim betet, in die Moschee geht oder eine Summe an Flutopfer in Pakistan überweist, tut er das als Muslim. Aber wenn er kocht, singt oder Fußball spielt? Und wenn er schlecht kocht, singt oder Fußball spielt, tut er das auch als Muslim? Oder ein Glas Wein trinkt oder in ein Bordell geht? Offensichtlich kann nicht jeder Muslim 24 Stunden am Tag die Muslimidentität gebrauchen. Das kommt überall vor: Die Republikaner in den USA, die am Sonntag sehr fromm sind, aber unter der Woche armen Schluckern ihre Krankenversicherung missgönnen, sind auch nicht die ganze Zeit Christ. 24 Stunden am Tag gläubig zu sein mutet sich in allen Religionen immer nur eine kleine Gruppe Frommer zu.
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Und was sind Islamisten?
Das sind halt diese Super-Frommen. Das Wort ist westlichen Ursprungs, obwohl das moderne Arabisch das Wort jetzt aus dem Englischen übersetzt hat: islāmīyūn. Es ist ein Sammelbegriff für mehrere Strömungen oder Richtungen innerhalb des Islams, die vielleicht — ich versuche nur — Folgendes miteinander gemeinsam haben:
– den totalitären, allumfassenden Charakter: Religion durchzieht das ganze Leben; keine Trennung von profan und religiös, von Glauben und Staat,
– das Bestreben, das Gesellschaftsleben in Einklang mit dem (strikt ausgelegten) Koran, der sunna des Propheten und dem Konsens der Prophetengefährten zu bringen (also: zurück zu den Quellen),
– Ablehnung von ausgewählten Äußerungen der westlichen Kultur und Zivilisation, aber auch der eigenen früheren Islamkultur.
– Häufig betreiben Islamisten auch Schulen, Mission und Sozialarbeit.
– Eine Minderheit ist gewaltbereit: die Dschihadisten.

ANMERKUNGEN
1. Bibel, Richter 8:11.
2. Zu den Emigranten und den sog „ersten Emigranten“ (al-muhāgirūn al-awwalūn) s. M. Muranyi, Die Prophetengenossen in der frühislamischen Geschichte, Bonn 1973.  P. Crone und M. Cook haben in ihrem Aufsehen erregenden Buch Hagarism (Cambridge 1977) den Wissenschaftlern für nichtislamische Quellen aus der Frühzeit des Islams die Augen geöffnet und somit auch für deren Mitteilungen zu den Emigranten. Sie haben einen ganz neuen Vorschlag für die Frühgeschichte des Islams unterbreitet. Das Buch war damals notwendig um die Orientalisten aus ihrem Tiefschlaf zu wecken, aber hat sich nicht als stichhaltig erwiesen. Was sie aber zu den „Emigranten“ schrieben, bleibt interessant.
3. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, uitg.. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 1007.
4. Bukhārī, Saḥīḥ, 23, 80; Muslim, Saḥīḥ, Qadar, 22; Koran 30:30, Übers. R. Paret.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, DhimmiFatwa, Hadith, Isnad, Isra’iliyatKalif, Koranauslegung, Naskh, ProphetenerzählungenSabab an-nuzulSchariaSiraSunnaTafsirTaqiya,

Diakritische Zeichen: muhāǧirūn,Uḥud, ṣalāt, šahāda

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